Verbotene Zone 2

Das Beste aus dem Blog

Samstag, 12. Januar 2013

 
Ein Leben ist nicht genug! Das ist viel zu wenig Zeit!
Ich würde so gerne nicht nur ein Schriftsteller sein (ein guter), sondern auch ein Maler, ein Komponist, vielleicht ein Schauspieler.
Es ist nun rund zehn Jahre her, seit ich das Malen aufgab. Zwar nicht von einem Tag auf den anderen, aber als ich 2002 beschloss, dass ich nicht gut genug werde könne, um ein wirklich bedeutender Bildender Künstler zu sein, habe ich weniger und immer weniger gemalt, bis schließlich dieser Nebenarm meines großen, großen Geistesflusses austrocknete.
In den letzten Jahren habe ich es ab und an noch einmal versucht, habe Papier und Bleistifte, Aquarellfarben, Kohlestummel in die Hand genommen, aber es wurde immer nur: Mist.
Ich hätte nicht gedacht, dass man so eine Fertigkeit völlig verlernen kann, ins Besondere, weil ich in den 90er Jahren kaum etwas anderes gemacht habe, nahezu jeden Abend an der Staffelei stand; aber nichts ist übrig geblieben, meine Zeichnungen sehen nunmehr aus wie von einem Dilletanten hingekritzelt, von einem untalentierten.
Dabei habe ich die Arbeit an der Staffelei immer mehr geliebt, als die an der Schreibmaschine (mittlerweile am Notebook). Das völlige Aufgehen in der Arbeit, der Tanz vor der Leinwand, der Tanz auf der Leinwand. Der Flow fließt zwar auch beim Schreiben, aber dieses totale Außersichsein, ist lang nicht so forciert.
Dummerweise hatte ich seinerzeit einfach festgestellt (nach einem freundlichen Hinweis der Künstlerin Brigitte Waldach, die charmant aber gnadenlos sein konnte), dass ich der bessere Schriftsteller wäre, wenn ich mich denn ins Zeug legen würde; und nach dieser Erkenntnis musste ich mich natürlich richten. Und natürlich war es auch eine gute Entscheidung, wenn ich mir jetzt so anschaue, zu was ich fähig bin. Aber es bleibt eine Melancholie.
Also, wieso ist mir nicht mehr als ein Leben gegeben? Das nächste würde ich von Kindheit an der Malerei widmen – denn einer der Fallstricke war mein mangelnder Fleiß in den 80er und 90er Jahren. Ich habe mich lieber ins Leben gestürzt. Das ist natürlich gut für die Dichtkunst gewesen, für die Bildende Kunst war es das nur bedingt.
Und in einem weiteren Leben würde ich ein halbes Dutzend Instrumente erlernen und wilde Stücke komponieren. Mikrotonale Wirbelstürme für vierzehn Streicher. Suiten für Wind, Bläser und Duschkopf. Fugen für Fön, Donner und Cembalo.
Ach, ein einziges Leben ist einfach nicht genug. Wieso haben meine Eltern mich nicht in die Musikschule geschickt und mich gequält, bis ich ein Instrument konnte? - Warte mal, die haben mich in eine Musikschule geschickt und gequält, nur leider nicht mit Klavier oder Geige, sondern mit Klangstäben. Orffsche Musiklehre – verlorene Hoffnung!
 
Die einzige Kunstform, die mir jetzt noch offen steht, in Zeiten, wo meine Haare in Panik zurück weichen, ist die Photographie. Die Technik ist schnell zu erlernen, der Rest ist Bildausschnitt, der richtige Moment und eine eigene Ästhetik. Das sollte kein Problem werden. Lasst mich knipsen, dafür braucht es vielleicht ein Viertel Leben (oder darf es etwas mehr sein?)...
Florian Voß nach Beendigung 
seiner Suite „Eis auf dem Alexanderplatz“
für drei Cembali, Dampframme und U-Bahn-Räder

Sonntag, 13. Januar 2013

 
Die Ästhetik des PICASA-Bildbearbeitungsprogramms wird dereinst das Bild des frühen 21ten Jahrhunderts prägen.
Die Art von Cross-Entwickler, das Sepia, die Duoton-Aufspaltung in Gelb und Blau, die künstliche 60er-Jahre-Patina, diese Effekte werden typisch für die Photo-Ästhetik sein, die unsere Nachfahren mit uns verbinden werden.
Ich kann mich gut an das erste Mal erinnern, als ich bewusst digitale Photographien wahrnahm. Im Jahr 1998 besuchte ich eine Ausstellung in der Galerie Ochs, die die damals noch revolutionäre und sehr kostspielige Digitalphotographie zeigte (ich schrieb eine Kritik für ein Hochglanzmagazin über die Vernissage). Alle museumsgroßen Photos hatten merkwürdige graue Fleckchen und meskalintrip-artige Strukturen in hellen Grüntönen auf der Oberfläche. Ich hielt sie an dem Abend für den Ausdruck einer speziellen Ästhetik; erst Jahre später, als sich die Digitalphotographie auf dem Massenmarkt durchgesetzt hatte, wurde mir bewusst, dass es sich einfach nur um technische Artefakte handelte, die der noch nicht ausgereiften Technik geschuldet waren.
Nichtsdestotrotz werden in hundert Jahren diese Fehler als Stilbildend gelten, so wie die grob gerasterte, bräunlich-ausgeblichene Anmutung der Salzabzüge von 1845 als Stilbildend gilt.
 
Wie erst müssen in hundert Jahren diese grellen, unnatürlichen Farben und Strukturen des PICASA-Programms wahrgenommen werden, das heutzutage vermutlich auf jedem zweiten PC weltweit installiert ist? Vielleicht wird diese Ästhetik dann so verehrt werden, wie jetzt die des Jugendstils.
Vielleicht sollte ich meinen Blog ausdrucken und signieren. Ihn in einzelne Stücke zerschneiden und wie japanische Rollbilder zwischen zwei Bambusstöcke klemmen?
 
So oder so ist es sehr interessant, darüber nachzudenken, was für unser Zeitalter exemplarisch stehen wird. Die ganzen iPhones sicher nicht, denn die sind nur ein Abklatsch vom BRAUN-Design des mittleren 20ten Jahrhunderts. Schon eher das Kindle-Keyboard (ehemals Kindle3), vor allem weil es für die wirkliche Revolution des 21ten Jahrhunderts stehen wird. „Sie verlassen die Gutenberg-Galaxis“. Zudem sieht das alte Kindle sehr eigen aus, mit seiner Tastatur aus kleinen, runden Knöpfen.
 
Doch welche Kleider werden es sein? Kaum zu entscheiden; denn wer hätte gedacht, dass weiße Nietengürtel einstmals als typisch 80er gelten würden. Immerhin glaube ich zumindest schon für die 90er sagen zu können, was als eigenartige Frauenmode gehalten werden wird: schwarze Schlaghosen aus weichem Stoff, die knapp über dem Knöchel enden, dazu bauchfreie Tops und Turnschuhe mit Plateauabsätzen - (Erinnert sich noch jemand? Die waren gruselig!) - die Haare wuschelig und in Neonfarben (Directions!)...

Montag, 21. Januar 2013

 
Eigentlich war der Zeitraum zwischen 1918 und 1958 ein einziger geschichtlicher Abschnitt, das Zeitalter des Jazz – auch wenn in Deutschland die Zäsuren von '33 und '45 natürlich stärker wirken, stärker gewirkt haben. Vor allem in der Dichtkunst ist, neben der Musik, dieser Halbjahrhundertstil zum Beispiel im Werk Gottfried Benns gut zu erkennen (aber nicht nur dort). Dann brach das Zeitalter des Pop an, des Beat in Musik und Lyrik.
Und hier wird es interessant; Benn steht mit Teilen seines Spätwerks genau im Übergang zum neuen Stil (zu Phase II, wie er es bezeichnet hat), man liest zum Beispiel:
 
     […] Vom Nebentisch hört man oft: „Wir Grossisten“, […]
     „Dreizehn Mark fünfzig als Monatsrate“:
     Die ganze Welt ist voll von solchen Worten.
     Demgegenüber die Inkassos des Himmels,
     verderblich vielleicht, in gewissem Sinne sträflich,
     aber man lag herum, abgeschabt, Ausverkauf, richtiger Verschleiß
 
     und nun für vierhundert Mark
     Quaderrisse
     Felsensprengungen […]
 
Das ist zwar nicht von Thematik und Metaphorik, aber ganz von der Schreibhaltung her schon Rolf Dieter Brinkmann verwandt. Benn ist auch hier, etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tod, ein echter Erneuerer.
So wie er 1912 mit Morgue die literarische Bühne betritt, so verlässt er sie wieder mit diesen Gedichten in freiem Vers, die ebenso revolutionär sind wie erstere, die aber lange nicht so auffallen, weil sie nicht in einem Zyklus gebündelt erschienen.
 
Wie ich Benns Gedichte immer schon geliebt habe. Kommt mir vor, als würde ich sie lesen, seit ich überhaupt lesen kann. In Wirklichkeit habe ich sie erst mit dreizehn oder vierzehn Jahren kennengelernt, als ich mich begann, ernsthaft für Lyrik zu interessieren. Allerdings ist Benn einer der wenigen Dichter geblieben, den ich in allen Phasen meines bisherigen Lebens gerne gelesen habe, denn sein Werk ist so breit gefächert, stilistisch alle Zeit geeignet.
Und nachdem ich gestern noch einmal das einzige Fernsehinterview mit ihm gesehen habe, weiß ich auch wieder, warum mir der Mann immer so sympathisch war: unprätentiös ist er, ein Genie, das es nicht nötig hat aufzutrumpfen. Angenehm auch seine Stimme, ruhig und in sich gekehrt, ohne dieses, für die fünfziger Jahre noch typische, Schnarren in der Stimme, ganz und gar kein preußischer Offizier; obschon er ja genau solch einer gewesen war.
Ein Weltbürger in Westberlin. Denn um ein Mann von Welt zu sein, muss man nicht die Länder bereist haben, sondern die Gehirnwindungen und Nervenstränge.
 
Und er hatte eine mir angenehme Haltung dem Publikum gegenüber:
[…] ich bin nicht populär und wünsche nicht es zu sein. Ich halte das Publikum für Pöbel und Ruhm für eine Schiebung. Beides steht mir gleich fern […]
 
Dolles Leben, famoser Dichter, dieser Gottfried Benn.
Dichten bis der Doktor kommt ...

Mittwoch, 15. Mai 2013

 
Robert Musil war ein ganz harter Hund. Das lässt sich ohne Weiteres belegen.
Musil konnte Kung-Fu und hat einmal Franz Kafka auf die Nase gehauen. Aber Kafka konnte Kendo und haute Musil so doll zurück, dass dem der Rücken noch Wochen später weh tat.
Doch Robert Musil jammerte kein bisschen und auch nicht für eine Sekunde. Musil war nämlich keine Heulnase, sondern ein ganz harter Hund.
Das alles geschah in Berlin. 16. Jänner 1924.
Eine belegbare Tatsache!

Donnerstag, 16. Mai 2013

 
Als ganz junge Frau ist die Ingeborg Bachmann mal auf den Mond geflogen, mit einer selbst gebastelten Rakete. Die hatte sogar einen richtig langen Feuerstrahl hintendran und hat immer ganz doll Schrumm-Schrumm-Schrumm gemacht.
Auf den Mond geflogen ist die Ingeborg, weil es dort eine Arztpraxis gab, von Dr. Benn. Der hat sich Ingeborgs Füße angeschaut und gemeint, die komischen grünen Flecken zwischen den Zehen kämen vom vielen Im-Gras-Laufen.
Deshalb war die Ingeborg nämlich gekommen, wegen der komischen Flecken.
Als die Ingeborg wieder weg war, hat der Dr. Benn aus dem Fenster geschaut und ganz melancholisch die blau schimmernde Erde betrachtet. Und dann hat er ein kleines bisschen geweint. Der Dr. Benn war nämlich eine richtige Heulnase.
Eine belegbare Tatsache!

Sonntag, 19. Mai 2013

 
Seit zehn Tagen muss ich das Bett hüten, wie man in meiner Kindheit gesagt hätte. Ein zäher Infekt will nicht aus mir weichen, und ich schlurfe durch die unterwassergrüne Parterre-Wohnung von Sonnenstrahl zu Sonnenstrahl.
Gestern verbrachte ich den Nachmittag auf dem Sofa im Erker und schaute in den Regenhimmel, auf die feucht glänzenden Blätter der Linde vor dem Haus, auf den neusachlichen Wohnblock gegenüber.
Und schrieb irgendwann ein Gedicht, so wie ich zur Zeit fast immer meine Gedichte schreibe, aus dem Denken heraus, einem Denken, das von Büchern und Erinnerungen, auch von Stimmungen, gefüttert wird.
Ich versuche mich voranzudenken in der Dichtkunst, versuche meine Grenzen auszuloten, vorauszureiten, Avantgarde zu sein. Aber: was ist das? Unverständlichkeit? Geheimnis? Abgewandtheit?
Als ich in den 90er Jahre zum ersten Mal Gedichte Thomas Klings las, kamen sie mir ungemein, unfassbar kompliziert vor, teilweise undurchschaubar. Mittlerweile lese ich sogar Celan-Verse wie SPIEGEL online, gut verständliche Nachrichten aus einer nicht verständlichen Welt. (Nur mit Pound habe ich so meine bedeutenden Schwierigkeiten).
Dadurch kann ich meine eigenen Texte kaum einordnen. Ist das noch knapp in der Schnittmenge des Mainstreams, oder ist das schon das dunkelrote Segment?
In einem neuen Gedicht versuche ich mehrere Themen engzufuhren. Die Theorie der Schattenbiosphäre, die Theorie über die Entstehung des Lebens (also der ersten Zellen) in mikroskopischen Hohlräumen von Steinen, Reinkarnation, Utopia als Lichtort (wobei Utopia wörtlich ja Nichtort bedeutet), und die zyklopischen Tempel von Baalbek (dessen anderer Name Heliopolis war, Sonnenstadt, Lichtort). Das ganze angereichert mit weiteren Klang- und Bedeutungs-Verweisen. Ist das alles noch verständlich ohne Gebrauchsanweisung? Mir schon.
 
     Nah Baal-Bek
   
     Schattenbiosphäre, Lichtort
     Im Nichtort, Utopia der Geister
     schlägt sich das Empfinden von Tod
     nieder gehalten im Sekundenblatt
     aus Sphärenmusik und Chlorophyll
     Schattenbiosphäre, DNS-los und
     in den Steinkavernen unter der
     mütterlichen Erde aufkochend
   
     Halluzinationen das alles
     schon seit Sekunden, seit Äonen
     schlägt der Zeitstrahl auf und
     fächert sich entlang der Mauer
     des Hades, der Schattensphäre
     Halo um die Sonne im Tunnel
     Heliopolis nicht zu erreichen
     Nichtort, Lichtort, Schattenbahn



Darüber hinaus fange ich in letzter Zeit an, mich mit Photographie als Kunstform zu beschäftigen. Denn als Kunstform scheint sie mir fast ausgereizt, was mich anspornt. Wie kann man die Welt inszenieren, so dass sie auf Lichtbildern bemerkenswert erscheint? Soll man Photos narrativ gestalten, lyrisch, romantisch; oder gerät man dann in einen geradezu pornographischen Kitsch für des verständige Bürgertum? Analog? Digital? Suboptimal?

Donnerstag, 23. Mai 2013

 
(Über das Scheitern I)
 
Ich lebe seit nunmehr zwanzig Jahren immer wieder über längere Strecken von Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld II, je nachdem wie die Almosen vom Staat gerade heißen.
Das letzte Mal, dass ich nicht am Hungertuch genagt habe, war das zweite Halbjahr 2001; da war mir das Arbeitstipendium des Berliner Senats zuerkannt worden. Ich bekam sechs Monate lang jeweils 2000 Mark überwiesen. Ich war reich. Ich war für eine Weile anerkannt.
Das ist lange her. Mittlerweile lebe ich schon wieder mehr als zwei Jahre von ALG II. Meine Kleidung ist abgetragen (wie ich gerade gestern erneut auf einem Photo feststellen musste, das mein vierjähriger Sohn aufgenommen hatte), ich kann mir keine bessere leisten. Die Gedichtbände der Kollegen sind viel zu teuer für meinen Etat, so dass ich mir nur unzulänglich einen Überblick verschaffen kann. Vor einigen Tagen habe ich mir ein gebrauchtes Buch für über zwanzig Euro gekauft; ich habe sehr lange gezögert: so ein teures Buch! - Dabei brauche ich es für die Recherche zu meinem neuen Roman.
 
Ich habe bislang vier Bücher veröffentlicht. Drei Gedichtbände, die sich jeweils in 150, 70 und 110 Exemplaren verkauft haben (und das ist die brutale Wirklichkeit). Ein Roman, der in einer Auflage von 3000 Stück gedruckt wurde, der aber nur 380 mal über den Ladentisch ging.
Ich habe gerade meinen dritten Roman abgeschlossen. Er ist einzigartig, das Beste, was ich je geschrieben habe. Er wird sich voraussichtlich kaum mehr als der erste verkaufen.
Mein zweiter Roman ist nie publiziert worden. Seinerzeit, vor rund drei Jahren, wurde er von einer Agentur mit der Begründung abgelehnt, er wäre zu gut geschrieben, das ließe sich schlecht vermarkten.
Für meine Gedichtbände interessiert sich kein Mensch. Die wenigen Leser könnte ich auch einmal im Jahr zu einer Party einladen und ihnen dann kopierte Manuskripte in die Hand drücken (mit Handkuss und besten Empfehlungen).
Ich bekomme keine Stipendien, geschweige denn Preise, obwohl ich mich seit fünfzehn Jahren auf fast alles bewerbe. Ich werde so gut wie nie zu Lesungen eingeladen, zu Festivals erst recht nicht, im Feuilleton kommt meine Arbeit nicht vor.
Verdient habe ich mit dem Schreiben in den letzten zehn Jahren – Lesungshonorare inbegriffen – keine 5000 Euro.
Ich bin jetzt 43 Jahre alt. Ich schreibe seit mehr als dreißig Jahren. Ich bin auf ganzer Linie gescheitert.
Das Leben als Dichter. Eine belegbare Tatsache!
 
(Aber immerhin kann ich mir noch Bananen und Orangen leisten. Vor hundert Jahren wäre das für einen armen Mann wie mich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen).
In einer Gesellschaft von Gewinnern ist es der größtmögliche Protest, ein Verlierer zu sein.

Samstag, 25. Mai 2013

 
(Über das Scheitern II)

Im Heyne-Verlag gab es in den frühen 80er Jahren eine Lyrikreihe. Monatlich wurden dort mit einheitlichem, weißem Umschlag Gedichtbände aus der klassischen Moderne oder sogar ein zeitgenössisches Werk publiziert, meist als Lizenzausgabe eines Verlags wie Luchterhand, Piper oder Limes (die seinerzeit noch Lyrik veröffentlichten - unglaublich aber wahr). Die Auflagen lagen teilweise bei 8000 Exemplaren (soviele werden heute nicht mal mehr von einem neuen Durs-Grünbein-Buch gedruckt).
Solche großen Publikumsverlage wie Rowohlt, Fischer und auch eben Heyne hatten Jugendbuchserien wie Panther, Boot oder Scene, die in jeder ihrer Anthologien nicht nur Kurzgeschichten (und zwar manchmal geradezu avantgardistische Kurzgeschichten) brachten, sondern auch Gedichte, und nicht wenige.
An den Kassen der Buchhandlungen lagen nicht nur die neuen Bücher von Michael Ende oder Johannes-Mario Simmel, sondern auch die von Erich Fried und Wolf Wondratschek.
Lyrik hatte Relevanz, Lyrik wurde gekauft. Ich glaube sogar: Lyrik wurde gelesen.
Das war die Athmosphäre, in der ich Gedichte zu schreiben begann, 1983, mit dreizehn Jahren. Und ich war voller Zuversicht, später damit mein Leben gestalten zu können.

Dann kam die Wende von 1989 und der Höllenritt in das Weltreich der sogenannten Globalisierung. In einem unheimlichen Tempo wurden die deutschen Literatur- und Publikumsverlage von zwei Konzernen aufgekauft (Bertelsmann und Holtzbrinck), und alles was nicht marktkonform war, wurde nicht mehr gedruckt. Es wurde einfach nicht mehr gedruckt. Vorbei. McKinsey hatte entschieden, dass das Land keine Gedichte braucht.

Und sie hatten recht: das Land brauchte keine Gedichte. Sie wurden nicht mehr in den großen Verlagen veröffentlicht, und keiner kaufte sie, auch nicht in den kleinen Verlagen, wo fortan die Dichter ein karges Asyl fanden.
Es interessierte niemand. Vorbei.

Hatte ein Debütant in den 80er Jahren üblicherweise noch 500-600 Exemplare von einem Gedichtband verkauft, sind es jetzt 100-200, wenn es gut läuft.
Ich kenne Debütanten, die verkaufen 20-30 Stück von ihrem ersten Buch, an dem sie jahrelang gefeilt haben. Ich kenne bekannte, fast berühmte Dichter, die verkaufen keine 500 Stück mehr, trotz Hymnen im Feuilleton.
Insofern ist die verkaufte Auflage meines dritten Gedichtbands von 110 Exemplaren gar nicht mal so schockierend. Sie ist eher Durchschnitt.

Und das bedeutet: das Gedicht an sich ist völlig marginalisiert, es findet in dieser Gesellschaft nicht mehr statt. Selbst die Kollegen kaufen kaum jeden neuerschienenen Band, sonst müssten die Auflagen höher sein.
Jedoch die 50 bis 150 Stück, die dann eben verkauft werden, stehen in den Regalen dieser Kollegen und vielleicht noch in denen einiger Germanisten.
Das sogenannte Bildungsbürgertum (das geistig ja völlig vernichtet wurde in den letzten zwanzig Jahren) kauft Frank Schätzing und Stephanie Meyer.
Dunkelheit legt sich über das Land.

Dienstag, 2. Juli 2013

 
Letzte Woche Sand von Herrndorf gelesen. Bester Roman der letzten zehn Jahre. Allein schon der Anfang, dieses äußere und innere Panorama, das sich da auftut. Und die Figur der Helen Gliese (der Name der Sterne in Skorpion und Waage), selten eine so gute Charakterisierung in einem zeitgenössischen Roman gelesen. Darüber hinaus bin ich mir allerdings unsicher, ob Cetrois und Polidorio die selbe Person ist. Wäre dramaturgisch naheliegend. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass Cetrois an der Auffahrt der Villa vorbei taumelt, in der zur gleichen Zeit Polidorio den blasierten Schriftsteller besucht.
Vermutlich ist der karierte Anzug des Rätsels Lösung. Ich muss den Roman in diesem Sommer ein zweites Mal lesen.

Was mich erneut verunsichert hat, war die so plastische Beschreibung der Wüste. Natürlich war sie plastisch, Herrndorf war ja im vorletzten Jahr dort. Die Verunsicherung betrifft auch nur mich selbst, denn in meinem nächsten Roman (mit dessen Entwürfen ich mich gerade beschäftige) wird die Wüste (Nevadas) eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Blöd nur, dass die einzigen Dünen, die ich jemals gesehen habe, bei Scheveningen an der Nordsee liegen. Ich hoffe, ich werde es besser als Karl May hinbekommen.

Seit gestern Morgen dann zum dritten Mal Arbeit und Struktur in einem Rutsch gelesen. Neben Sand sein bestes Werk, wie ich finde. Noch selten einen derart eindringlichen Text gelesen. Nun warte ich auf seine letzten Einträge die, befürchte ich, bald erscheinen werden.

Parallel dazu Leben von David Wagner. Natürlich lange nicht so gut und tiefsinnig, es fehlen in dem Buch die Reflektionen, das Innenleben; aber als eigenständiger Text gar nicht mal schlecht. Ich habe es jedenfalls bis zum Ende gelesen, und mich nicht darüber geärgert, dass Wagner dafür den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hat. Interessant auch, dass wie in unserer Jugend offensichtlich partiell den gleichen Musikgeschmack hatten: Joy Division, The Cure, Souixsie and the Banshees. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Hätte bei ihm eher auf Duran Duran, maximal auf Depeche Mode getippt.
Vermutlich sollte ich Leben erneut lesen, wenn Herrndorfs Blog in meinem Kopf wieder etwas verblasst ist. Vermutlich ist das in Wirklichkeit ein gutes Buch.

Mittlerweile natürlich in einer reichlich morbiden Stimmung (noch morbider als sowieso schon immer). Stehe alle halbe Stunde auf dem Balkon in der Sonne, rauche Camel Filter (Marke meines verstorbenen Vaters) oder West (Marke meiner verstorbenen Mutter) und sinniere über den eigenen Tod. Momento Mori. Auch nichts Neues.

Ansonsten ein paar Gedichte geschrieben und über den Roman nachgedacht, den ich wahnsinnig gerne Licht & Blindheit nennen würde. Geht natürlich nicht.
Immerhin ist mir gestern im Halbschlaf eingefallen, wie ich das Motivationsproblem der zentralen Figur lösen kann: mit dem Angebot, ihr einen Computerchip ins Gehirn zu verpflanzen.

Sehr unsicher bin ich mir aber noch über die Struktur des Ganzen. Soll ich mit Spannungsbogen und Plotpoint arbeiten (so wie bedingt im letzten Manuskript - Wermut), oder bastle ich ein riesiges Gestrüpp verschiedener Segmente aus Zeit und Raum zusammen? Und wie behandle ich die wörtliche Rede im frühen 18ten Jhdt, euro Gnaden?
 
*
 
In den letzten Wochen immer wieder mal über den Bachmann-Preis nachgedacht. Zum dem Schluß gekommen: seit sicher zehn Jahren unnötige Veranstaltung.
TV ist eh scheiße. Und wären endlich alle Literaturverwurstungsshows im TV verwurstet und runtergespült, wäre der Bachmann-Preis Geschichte, ebenso wie alles was zum Beispiel Thea Dorn verbricht bis zum Erbrechen, dann würde vielleicht, vielleicht die wirklich relevante Literatur unserer Generation wahrgenommen werden.
Urteil natürlich schwer getrübt durch die Kränkung, trotz zweimaligem Bewerbs dort nicht eingeladen worden zu sein.
Immerhin haben sie vor Jahren Herrndorf zum Tanz aufgefordert, wenn er am Ende des Abends auch nicht das Blumenbuket zugeworfen bekam.

Montag, 8. Juli 2013

 
Wie kann man nur so langweilig über langweilige Figuren schreiben?
Seit ich in den letzten Tagen zum ersten Mal Daniel Kehlmann gelesen habe, weiß ich erst David Wagner richtig zu schätzen. Hätte ich Leben nach Der fernste Ort gekauft, hätte ich den Roman von Wagner vermutlich für großartig gehalten. Alles ist relativ, selbstverständlich ist es das.
Mein erstes Date mit Kehlmann also, und ich bin gelangweilt. Kein Charme, kein Esprit. Seine Novelle, die als sein viertes Buch 2001 bei Suhrkamp publiziert wurde, ist kurz und zäh, so dass ich, obwohl ich schon achtzig Prozent des Textes gelesen habe, kurz vorm Aufgeben bin.
Möglicherweise ist das sein schlechtestes Buch, aber einen guten Schriftsteller könnte man ja auch mit seiner trübsten Arbeit ertragen. Es ist unfassbar, aber Der fernste Ort erhebt sich stilistisch streckenweise kaum über einen ambitionierten Oberschüler-Aufsatz hinaus. Banal und voller Clichés wird folgerichtig eine Schule beschrieben: Er stieg aus und blickte an der Fassade der Schule hinauf. Ihre vom Regen schwarzen Mauern, die schwer zu bewegende Eingangstür, die Kunststoffböden und der Geruch nach Pullovern und Reinigungsmitteln.
Mein Lektor würde mir solche Passagen erbarmungslos streichen. Hätte das aber sein Lektor getan, wäre die Novelle auf die Hälfte zusammengeschnurt.

Auch Emotionen beschreibt Herr Kehlmann sehr präzise und fern jeder Trivialität: Sein Mund war ausgetrocknet, in seinem Magen hing ein bohrend flaues Gefühl; auf einmal wollte er so sehr nach Hause, dass ihm Tränen in die Augen traten.
Das hat kaum mehr Niveau, als ein Groschenroman. Wie kann man mit so etwas dermaßen mediokren dermaßen bekannt werden, so hochgelobt, geehrt mit mehr als einem Dutzend Auszeichungen? Doch vieleicht, vielleicht ist das ja wirklich sein schlechtestes Buch.
Und die Stilblüten, die kann er, die macht er ganz grandiös: Die Möbel zeichneten sich als scharf umrissene Schemen ab.
Entschuldigen Sie, lieber Autor, liebster Lektor: entweder scharf umrissen oder schemenhaft. Das muss einem doch auffallen.

Aber was wird hier eigentlich erzählt? - Ein langweiliger Mann namens Julian versucht seinem Leben zu entfliehen, täuscht einen Badeunfall vor, trifft per Zufall seinen etwas verschrobenen Bruder (der einzigen halbwegs interessanten Gestalt des Textes)... und weiter bin ich noch nicht vorgedrungen. Achtzig Prozent des Buches.
Unelegant unterfüttert wird das mit der Erinnerung des Protagonisten, die ihn zu einer anderen Flucht zurückführt, die aber ebenso uninteressant ist.
Zwischendurch hat dieser Julian das Gefühl, sein Ich würde sich auflösen; und was nimmt der Autor hierfür zur Veranschaulichung, na? Na? - Spiegel! Spiegelbilder, spiegelnde Flächen, Ich-Verlust. Grundgütiger!

Ich habe bislang einen Bogen um das Werk Kehlmanns gemacht, weil ich nie das Gefühl losgeworden bin, dass er zu Unrecht vom Feuilleton hochgeschrieben wurde. Das stimmt anscheinend. Aber ich werde seinem Werk noch eine Chance geben. Nachdem ich mich durch Der fernste Ort gequält haben werde, nehme ich mir Ruhm vor, seinen neusten Roman. Es kann ja sein, dass er in den letzten zehn Jahren zu einem 1a-Schriftsteller herangewachsen ist.
Andernfalls werde ich nicht zum ersten Mal am deutschen Feuilleton verzweifeln.

Freitag, 12. Juli 2013

 
Ah, also doch, Kehlmann kann schreiben.
Nachdem ich mich bis an das Ende des Buchs Der fernste Ort gehangelt hatte, und von dem Schluss nicht einmal gelangweilt war, nahm ich mir auf Empfehlung zweier Freunde den Roman Ich und Kaminski vor.
Und plötzlich schaffte Kehlmann das, was ihm bei seiner früheren Novelle nicht gelang: er konnte mich unterhalten, er brachte mich zum Lachen. Denn hier war er offensichtlich in seinem Metier, dessen Stärke nicht die Innensicht oder die stilistische Raffinesse ist, sondern die Geschichte als solches - die mir in Der fernste Ort größtenteils fehlte. Dort schickte er einen langweiligen Protagonisten auf die Flucht, initiiert durch einen inszenierten Badeunfall, der sich gegen Ende eben nicht als inszeniert sondern real erfahren heraustellt; was keine sonderliche Überraschung war, dem Text aber doch eine gewisse Überhöhung gab, die das letzte Viertel des Buchs zum stärksten Abschnitt machte. Den Tod als Winterreise darzustellen ist zwar wenig orginell, aber Kelhmann bringt es zumindest fertig eine Stimmung des Jenseitigen zu erzeugen. Daher war ich mit Der fernste Ort fast schon versöhnt, auch wenn es letztlich kein gutes Buch ist.
Aber es hinderte mich zumindest nicht, ein weiteres in Angriff zu nehmen: Ich und Kaminski. Und das ist gut konstruiert und rasant erzählt, auch wenn der Schluss ein bisschen mager ausfällt: Der Erzähler geht ins Weite, in die leere Zukunft. Gar nicht so unähnlich, wie in der Novelle zuvor.

Ein großer Stilist scheint mir Kelhmann nach wie vor nicht zu sein, aber immerhin langweilt er mich nicht mehr, und ich muss die FLAK auf meinem Elfenbeinturm nicht neuerlich auf das deutsche Feuilleton richten, ob seiner Einfältigkeit.

Zwischendrin dann noch das erste Drittel von Don Delillos Cosmopolis (nebst zweier anderer Bücher, die ich hier nicht besprechen möchte). Der Hype um Delillo ist mir ebenfalls unverständlich geblieben. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder einen Roman von ihm angefangen, und bin kaum über die ersten fünfzig Seiten hinaus gekommen. Das mag alles gut geschrieben sein, aber mitreißen will mich das nicht.
In Cosmopolis z.B. wird ein kleines Thema ausgewalzt - die Bezuglosigkeit des modernen Finanztykoons in seiner kühlen Welt - aber vor allem die (textbestimmenden) Dialoge tragen nicht; so ungewöhnlich sie in ihrer Art in einem literarischen Zusammenhang sind, sie nutzen sich schnell ab. Und mehr hat der Text nicht zu bieten. Auch hier fehlt wieder die Innensicht, die Reflektion. So bleibt eine oberflächliche Welt nur oberflächlich dargestellt.

Donnerstag, 18. Juli 2013

 
Ich bin das Schnitzel.
Gerade habe ich eine alte Dokumentation über Thomas Brasch gesehen, aus der Reihe Personenbeschreibung von Georg Stefan Troller.
Und die Gedanken stürmten (ballerten), ein Gewitter von Empfindungen: 1977, da war ich ein Kind in der späten Nachkriegszeit, und Nikolas Born war ein paar Jahre zuvor auf dem Bahnhof meiner Geburtsstadt Lüneburg ausgestiegen, unter einem grauen Himmel, in dem noch die Schatten der Bomber geschnitten waren. An meinem Geburtstag war er dort, und schrieb ein Gedicht. Ein ehrliches, ein graues.
Auch Thomas Brasch lebte in diesem Film in einem Grau. West-Berlin sah erhaben und zerstört aus, die Fassaden angefressen. Und ich dachte, mit der Nase dicht am Bildschirm meines internetfähigen Sony Vaio, dass diese Stadt nun keine Trümmer mehr hat, das alles geheimsnislos geworden ist in den Gassen und auch Hauptstraßen, dass die Winkel verschwunden sind, dass die Wohnungen zu vollgestopft wurden, mit Technik & Büchern (die keiner liest) & Lebensmitteln & Sterbensmitteln, und alles nur noch ein sonnenbeschienener lichtloser Ort ist.
Und ich dachte: müsste ich nicht langsam diese Stadt verlassen, richtung Land, richtung Vergangenheit – vielleicht in die Slums von Brasilien ziehen, emigrieren; doch die Slums von Brasilien werden auch schon gentrifiziert, wie ich am Nachmittag in einer Arztpraxis in einem alten Spiegelheft las (auch dieses Medium von mittlerer Größe zum Gossenkern geschrumpft).
Und mir fiel auf, dass man als Dichter immer kurz rasierte Haare tragen kann, egal welches Jahrzehnt im Kalender angeschrieben steht. Wie auch die vielen Erinnerungen angeschrieben stehen, unbezahlt. Der Wirt in der Zeitkneipe hat den Bierfilz längst zerbröselt.
 
Ich bin das Schnitzel, ihr seid die Gäste, doch wer ist heute mein Kellner?
Georg Stefan Troller ist ein vergessenes Genie, das würde ich in Granit schlagen. Ich habe niemals so gute Fernsehsendungen wie seine Dokumentationen gesehen. Mit dieser assozativen Kamereaarbeit, mit diesen Fragen, die sich beim Sprechen in dem Kopf des Georg Stefan Trollers zu bilden scheinen, die er noch beim Aussprechen hin und her wendet.
Und wenn ich dann die Schlusssequenz des Filmes sehe, dieses minutenlange Grübeln des Thomas Braschs, auf den die Kameralinse schaut, dann weiß ich wieder, warum ich heute keinen Fernseher mehr habe.
Der nächste Gedanke ist: warum sind nicht alle seine Dokumentationen im Netz verfügbar? Warum müssen wir nunmehr verpflichtende Rundfunkgebühren zahlen, für Mutantenstadel und Hofberichterstattung der Tagesschau; und so etwas, so etwas Graues und Kräftiges wird uns vorenthalten? Man könnte auf die Idee kommen, dass sei zu gehirnöffnend für das gemeine Volk; das Volk dürfte das nicht mehr sehen, es könnte das Volk der 70er Jahre werden, es könnte wieder auf dumme Gedanken kommen.
(Und wann endlich wird Braschs 1000-Seiten-Werk Mädchenmörder Brunke veröffentlicht?)
 
Wann habe ich das letzte Mal das Kürzel DDR ausgesprochen? Irgendwer hier, der dieses Akronym in den letzten zehn Jahren ausgesprochen hat?
Kaum zu glauben, dass es noch vor einer Genration einen zweiten deutschen Staat gab. Und zugleich so erschreckend, dass das schon eine Generation her ist. Es schreiben jetzt (jetzt, Jetztzeit, Gegenwart, schwere Verstörung im Sonnenschein) Dichter Gedichte, die erst nach der Wende geboren wurden. Bald ist der Mauerfall so lange vergangen, wie der Zweite Weltkrieg zum Zeitpunkt meiner Geburt.
Damals Nachkriegszeit, heute Vorkriegszeit. Ich bin das Schnitzel. Im Zeitalter des neuen Wilhelmnismus. Aber geraucht wird nicht mehr, und alles ist in Farbe. 32 Bit. Ich will, dass das alles verschwindet. Und ich will kurze Haare haben. Grau. Fade out. Black.

Samstag, 27. Juli 2013

 
Elektronenhirn I

Was hätte ich gegeben für einen Sinclair ZX 81, für einen Commodore 64 oder einen Atari mit zehn Kassetten. Doch nicht mal eine Schreibmaschine tackerte ihren Code von Anschlag und Stille in unserer winzig kleinen Wohnung in einem 500 Jahre alten Haus.

Ich drücke mein Ohr an den Sony Vaio VGN und lausche nach dem Klicken der Insektenbeine auf dem Weg von Null zu Eins. Diese Marke hat einen wohlgeformten Klang, seit ich mir in später Kindheit die Earphones eines Walkman TPS-L2 über den Schädel stülpte.

Die Bruderschaft von Psion war unerreichbar, die Mitgliedschaft war viel zu kostspielig. Die frühen Multi-Tasking-Fenster kannte ich nur aus den Schaufenstern von Hertie. Ebenso diesen einen Schachcomputer, silbern, mit dem Greifarm eines Roboters. Er konnte schneller denken als mein Vater, er konnte schneller ziehen als meine Mutter. Er war so ganz und gar nur Null und Eins.
 
Bei Joe Enderlein gab es Telespiele, drei Konsolen auf dem Altar vor dem Fernsehgerät. Wir steuerten das Raumschiff Zaxxon von Colecovision, hangelten über die tiefen Gruben von Intellivisions Pitfall, versorgten E.T. mit kleinen Keksen, grobgepixelten Atari-Keksen. Und tranken Blue Curacao. Und blätterten in Playboy-Heften, oder klappten mit stillen Gesichtern die Folder in der Penthouse auf.
 
Die Datenkassette rotierte in der Datasette, und zehn Minuten später war das Turbo-Tape durchgelaufen und der C64 bereit für ein Programm, das dann nur noch eine viertel Stunde laden würde.
Schließlich auf dem Bildschirm: Pacman. Wer hätte je geahnt, dass man dieses Mondgesicht noch dreißig Jahre später sehen würde, in staubigen Reklamen für ein mäßig spaßiges Altersheim?

Als ich noch ein kleines Kind war, hatte mein Großvater einen riesenhaft großen IBM unter einem Staubfang stehen; in seinem Arbeitszimmer ruhte die Kiste ohne Bildschirm und ohne eine Regung. Und niemals dürfte ich sie berühren. Ebensowenig die Canon-Schreibmaschine, die einen Ein-Zeilen-Display hatte und eine Verschalung aus rotem Plastik.
Ich schrieb schon Gedichte; ich war Zwölf und wollte auch so eine Maschine besitzen, so einen futuristischen Traum von Dichtkunst. Ich hätte viel modernere Gedichte geschrieben, hätte ich so eine Canon S-50 besessen. Ich wäre ein Rimbaud des Computer-Zeitalters geworden, hätte ein Elektronenhirn gehabt.

Vor einigen Monaten habe ich mir die Canon-Schreibmaschine bei ebay ersteigert, für acht Euro. Aber mir fehlt das Thermopapier, mir fehlt das Netzteil, mir fehlen die Gedichte, die ich mit Dreizehn geschrieben hätte.

Sonntag, 28. Juli 2013

 
Elektronenhirn II

Palm m505, du kammst zu mir geflogen mit anklickbarer Tastatur. Du hast ein Farbdisplay und ganze 8 Megabyte RAM. Du bist ein Herkules, du bist zehn Jahre jünger als Psion 3, der mit seinen 512 Kilobyte mühsam und verschlafen denkt. Psalm, du wirst mir die Dioden in den Äuglein leuchten lassen. Blink, blink.
Epson HX-20, dich rufe ich, mit allen acht Winden, die seit der Antike um meinen Kopf wehen. Du bist die Keilschrifttafel der Notebook-Ära. Psion MC 400, dich rufe ich, mir zu gefallen, und mir deinen Schwarzweiß-Bildschirm zu zeigen: 32 Graustufen, 32 shades of grey, sind dir zu eigen. Und zwischen Keyboard und Display enthüllt sich das allererste Trackpad. Wer braucht da noch eine IBM-Maus, wer kann noch Apple ernstnehmen?
 
Ich erinnere mich: vor meiner Geburt gab es schon Pong und Spacewar! Es flog im MIT ein Raumschiff über einen runden Bildschirm. Es verlor schon ein Professor gegen das erste starke Schachprogramm MacHack, kurz bevor es endlich Richtung Mond ging. Der erste Mensch der dümmer war, als ein simpler Algorhythmus. Oh, Plankalkül des Konrad Zuse, du hast uns die Misere eingebrockt, der Mensch ist kleiner noch als eine zusammengelötete Platine.

Nullen und Einsen, ich erinnere mich, nahmen wir durch, gleich nach dem Einmaleins. In der 5. Klasse, 1980, versuchte uns ein Mathematiklehrer (sein Name ist im Datenfriedhof versickert) die Strukturen zu vermitteln, den binären Code. Er hatte sicherlich noch nie in seinem Leben die Finger auf das Keyboard eines Sinclair ZX 81 gelegt. Er sah nach Adler-Schreibmaschine aus.

Oh, großer Sony Vaio, ich starre jede Nacht auf deinen goldgefüllten Bildschirm. Deine 2 Gigabyte RAM schleudern mich in gänzlich fremde Welten (wir schreiben das Jahr 2013...). In Foren wirbelst du mich, die seit der Antike unbetreten sind. In den dunklen Schlund von allMystery.

Dienstag, 30. Juli 2013

 
Unruhige Nächte. Als wäre der Tod nur eine Gewitterwolke, durch die man hindurch fliegen kann.
Das Auge trinkt Dunkelheit und nimmt Fahrt auf. Atmende Stille vor den Fenstern. Die Jalousien auf Halbmast. Kann man den Traum an langen, grauen Leinen aus sich herausziehen? Ihn als zuckendes Ektoplasma auf den Boden werfen, vor das verflüssigte Bett? Ein Glimmen in der Schwärze, Lichtpunkte, Regen, oder doch nur Wind in den schwarzen, herabhängenden Folien der Nacht, zwischen die kein Taganbruch mehr passt. Diesseits des Ereignishorizonts.

Freitag, 2. August 2013

 
Ich denke in den letzten Tagen wieder viel über Photographie nach. Wie kann man die Nacht abbilden? Wie kann man von dort aus in die Abstraktion gleiten? Ist es dann noch als Photographie zu erkennen, oder wirkt es wie Computergrafik? Bleibt es reines Kunstgewerbe?
Andererseits kann man in keinem Medium fein strukturierte Oberflächen so gut darstellen, es lassen sich Effekte erzielen, von denen Mark Tobey nur geträumt hätte, kein Bild kann so gut das Rieseln eines Fiebertraums darstellen, das Leuchten einer Opiumnacht:

Freitag, 9. August 2013

 
Ich habe einen Streifen mit Tabletten in der Hemdtasche meines gelben Hemdes, der knistert wenn ich beim Lesen die Seiten umschlage.
Das Hemd habe ich am frühen Abend angezogen, weil mir ein Vogel auf mein hellgraues Lieblingshemd geschissen hatte, als ich (zusammen mit meiner Frau) meinen Sohn vom Spielplatz abholte.
Dort hatte er mit Freunden ein Blumenbeet angelegt, im Sandkasten, aus abgerupften Blättern. Mit einem krummen Stock hatte er auch Unkraut freigelegt und zum Sandkasten getragen: ein Blumenbeet aus Blättern und Stengeln.
Die Tabletten in dem knisternden Verpackungsstreifen sind für meinen nervösen Magen, der den Wein weniger und weniger verträgt mit den Jahren (genau wie es bei meinem Vater war, dem der Alkohol letzlich die Leber zerfraß und ihm einen unschönen Tod bereitete – aber was ist schon schön am Sterben?). Aber mein Kopf verträgt ihn noch gut – versehentlich wollte ich schreiben: mein Tod verträgt ihn noch gut – am Abend. Am nächsten Morgen jedoch sind die Nerven porös, und ein rote Flut von Zorn schwappt durch mein Ich (wie ich es gemeinhin nenne, der Einfachheit halber), das sich aufteilt zwischen Gehirn und diesem Nervenknoten neben dem Magen, der zwar nicht denken aber hassen kann.
Man darf mir dann nicht zu nahe kommen, denn ich bin ein böses Tier. Doch weil ich noch immer aussehe wie ein bleicher Mittvierziger, und nicht wie ein böses Tier, und weil kein Gitter ist zwischen mir und der Welt (obwohl das hilfreich wäre), kommen die Leute heran und sprechen mit mir. Sie halten mir Stöckchen hin und Blätter, aber mein Magen ist zu nervös, um das zu essen.
Und ich schaue sie an, die Besucher, und knurre laut.
Ich fresse meine Magentabletten und bin voller Missgunst gegen die Welt. Aber die Besucher, sie wollen einfach nicht verschwinden.
 
*
 
Es gefällt mir in den letzten Jahren immer besser, in der Wohnung zu sitzen, an einem Tisch am Fenster, und herauszuschauen in den Vormittag. Ich brauche das Außen nicht, ich muss nicht in den Sommer hinaus gehen, ich sehe es ja von innen. Ich lege bald meine fetten, bleichen Unterarme auf die Fensterbank (ein gehäkeltes Kissen darunter) und grüße die Nachbarn mit einem unverständlichen Brummeln.
Gegenüber steht ein sozialer Wohnblock aus den späten 20ern, Hausfassaden, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne, mit Schatten getüncht, mit fremden Menschen bepackt. Ich habe kein großes Interesse an diesen Menschen. Es sind nur Menschen. Sie werden sterben, auf kurz oder lang. Warum sollte ich Interesse entwickeln. Ich bin ein unsterblicher Rentner am Nachmittag (oder am Vormittag), mich tangiert das nicht mehr.
 
Mir wird es gut gefallen im Altersheim. Ich möchte ein helles Zimmer haben, das soll leer sein. Nur ein Bett soll drin stehen, und ein kleiner Schreibtisch mit einem Stuhl. Keine Bücher werden dort sein, keine Bilder, kein Kram. Ein eBook-Reader und ein Notizbuch werden mir genügen. Etwas Musik vielleicht, von einem MP3-Player (in erster Linie Bach und Purcell). Kräutertee und Schokolade. Ein Blick in die Sonne. Platanen vor den Fenstern. Ab und an eine Notiz. Und auf der Straße des Nachts der eine oder andere Verehrer, der meine Gedichte mit heißerer Stimme intoniert.
 
Ich habe einmal den Kommunarden Langhans in einer TV-Sendung gesehen. Er saß in seinem Zimmer, und in diesem weißen Zimmer gab es nichts, außer einer Matratze, einer Handvoll Bücher und einem Laptop. Das reicht, mehr braucht es nicht. Da will ich hin.
(Ich muss gleich morgen 2000 Bücher verschenken).

Mittwoch, 14. August 2013

 
Also gut, ich muss es zugeben, ich habe eine Schreibkrise.
Anstatt zumindest Gedichte zu überarbeiten, saß ich am Morgen am Wohnzimmertisch und schrieb einen Wikipedia-Artikel. Über mich.
Schon 2009 hatte irgendwer einen Eintrag über meine Wenigkeit verfasst, aber der wurde umgehend gelöscht. Auf der Diskussionsebene der Plattform hieß es, ich sei ohne ersichtliche Relevanz. Es war ein Hauen und Stechen zwischen den anwesenden Mitgliedern der Wikipedia. Doch die Fraktion, die meinte, ich sei doch durch diverse Buchveröffentlichungen ausreichend ausgezeichnet für einen Eintrag, war nicht zahlreich genug. Und dem Mann, der das gewichtigste Wort führte, war nicht beizubringen, dass die Lyrikedition 2000 kein Zuzahlverlag sei. Er bestand darauf, dass Verlage die Print on Demand betreiben per se Geld von ihren Autoren kassieren würden. Was natürlich nicht den Tatsachen entspricht. Ich versuchte ihm das zu verklickern, aber er war uneinsichtig. Ich sei nicht relevant, als Schriftsteller. Also gab ich klein bei und googelte ein paar Tage später erneut meinen Namen: kein Wikipedia-Eintrag mehr. Schade.

Heute habe ich dann aus Langeweile ein paar Änderungen in verschiedenen Artikeln anderer Dichter vorgenommen. Und weil mir so langweilig war, und weil es mich noch immer ein wenig fuchste, dass ich dort nicht vorkam, und weil mittlerweile auch für den kritischsten Administrator die Relevanzkriterien erfüllt sein sollten, bastelte ich einen Eintrag zusammen und stellte ihn online. Er steht jetzt, um 23 Uhr, noch immer dort, obwohl er schon kontrolliert wurde. Und kein Löschantrag ist verzeichnet.

Der Artikel steht also noch immer da. Und ich freue mich. Ich weiß nicht genau warum, denn ich habe ihn ja selbst geschrieben, also ist er keine besondere Auszeichnung, aber wenn ich die Seite so betrachte, fühle ich mich plötzlich wichtiger als gestern.

Wenn man als Dichter keinen großen Erfolg hat, nimmt die Jagd nach dem Ruhm seltsame Wege. Immerhin konnte ich mich letzten Monat unterstehen, auf einen Brief des deutschen Who is Who zu antworten, in dem man mir einen Lexikon-Artikel zum Sonderpreis von 79 Euro anbot (oder war es noch teurer?).

Die einzige Frage, die mich jetzt noch umtreibt ist: soll ich eine Photographie einpflegen (und muss ich die Photographie vorher streicheln, um sie zu pflegen)? Und wenn ich das mache, soll sie in Sepia sein, oder eher mit dem verhaltenen Silberstich einer Daguerreotypie? Photoshop? Picassa? Verkubisiert von Picasso? - Ich könnte natürlich auch (mehr) Falten unter die Augen einfügen, dann brächte ich nicht gleich im nächsten Jahr den Eintrag zu aktualisieren.
Vielleicht sollte ich mir zudem eine schönere Herkunft zulegen: Sohn des Schwippschwagers des Kaisers von Äthiopien. Studierte altsteinzeitliche Kulte an der Kaldcisc-Universität in Botwarisc. Nahm an der Expedition zur Nilquelle im Jahr 1988 teil. (Seitdem teilweise verschollen). Voß gilt als einer der maßgeblichen Experten in der Bestimmung von Königsstäben der Larifari-Kultur (dazu veröffentlichte er auch das Standardwerk "Majestäten und ihre Taten im Land der Larifari", Heidelberg und Malzahn 1994).
In den Jahren 2001 und 2002 befand sich der Autor auf Astralreise zwischen Nirwana und Hohenschönhausen. Im Anschluss organisierte er das weithin besprochene Treffen Niederer Dämonen in der Literaturwerkstatt Berlin. Dort kam es zu einem Eklat, nachdem Voß einen bekannten Dichter des Saales verwiesen hatte, weil dieser (unangekündigt) ein Gedicht über der Engel Ordnung verlesen wollte.
Voß lebt heute zusammen mit seiner Frau, seinen fünf Sohnen und diversen Murmeltieren auf einem Einödhof in der märkischen Schweiz. (Seine Korrespondenz mit Botho Strauß erscheint 2014 im Verlag der Zwei Sterne).
 
Ach ja, die Änderungen in den anderen Artikeln: Ann Cotten hat jetzt eine Ausbildung als Tierkonservatorin, Hendrik Jacksons Großvater war ein Weltraumforscher und Björn Kuhligk ist in München geboren worden.

Montag, 26. August 2013

 
Die meisten Kritiker - die handvoll, die sich mit meiner Produktion bislang beschäftigte - halten mich ja für einen Günstling des expressionistischen Wandelsterns, und auch viele Kollegen waren der Meinung der Einfluss Gottfried Benns (zum Beispiel) wäre auf mich ein bedeutender gewesen.
Dabei hat mich die surrealistische Dichtung der Franzosen und Tschechen in meiner Jugend, also in einer Zeit, in der ich noch beeinflussbar war, viel mehr fasziniert (wenn ich auch schon mit acht Jahren die Dichtung Georg Trakls gelesen hatte, die mich düster umfasste und mich auf den Weg in die Verwesung schickte).
Kaum ein Gedicht hat sich mir in meinem bisherigen Leben so eingeprägt, wie einige Zeilen von Philippe Soupault:

Sonntag

Das Aeroplan spinnt die Telegraphendrähte
und die Quelle singt das gleiche Lied
Im Lokal der Kutscher ist der Aperitif orangen
doch die Augen der Eisenbahner sind weiß
die Dame hat ihr Lächeln im Wald verloren


Ich fand das Gedicht in der (zumindest seinerzeit) legendären Anthologie "Das Surrealistische Gedicht", die 1985 bei dem Versandhändler Zweitausendeins publiziert wurde, und die ich mir von meinen Eltern Weihnachten 1986 schenken ließ. Dort las ich auch zum ersten Mal Antonin Artaud, dessen Pathos mich fast ins Taumeln brachte. Und Eluards traumdurchsponnenen Oden an Pariser Vormittage und dergleichen.
Das waren die Sachen, die meinem Schreiben eine Richtung gaben (nachdem es zuvor eher der amerikanische Beat gewesen war, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti und Ed Sanders), das sitzt mir bis heute im Mark und beeinflusst meine Art, die Realität wahrzunehmen.
Den Expressionismus hingegen musste ich nicht lernen, der saß mir von Geburt... ach, was, von der Zeugung an in den Zellen.

Dienstag, 27. August 2013

 
Wolfgang Herrndorf ist tot.
Und mir stehen die Tränen in den Augen, was mir, bei einer mir fremden Person, noch nie passiert ist.
Aber ich habe ja die letzten Jahre seinen Blog gelesen, und dadurch ist er mir nahe gekommen. So jedenfalls kommt es mir vor.
Einmal habe ich ihn vor der Z-Bar gesehen. Dort saß er mit Freunden in der abgedimmten Nacht, als einziger nahezu schweigend. Ich hätte ihn gerne angesprochen, um ihm zu sagen, wie gut mir Sand gefallen hat, wie großartig ich seine Art zu Schreiben fand, aber ich wollte keinen sterbenden Mann von der Seite anstrudeln.

Was hätte dieser Autor noch schaffen können. Uns gehen vermutlich die fünf oder sechs besten Romane der 10er und 20er Jahre durch die Lappen.
Immerhin: Sand wird bleiben, da bin ich mir sicher, und natürlich auch Arbeit und Struktur.

Und jetzt gerade teilt Kathrin Passig auf Facebook mit, dass Wolfgang Herrndorf nicht an Krebs starb: "Er hat sich gestern in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen."

Immerhin ein selbstgewähltes Sterben. Ein letzter Sieg. (Aber es treibt mir noch mehr Tränen in die Augen).

Mittwoch, 20. November 2013

 
Ich hatte schon immer etwas für das Makabere übrig. Für die Zerstörung, die Verstörung.
Im Bücherregal meines Vaters gab es ein schmales Taschenbuch mit Zeichnungen von Roland Topor, bitterböse Skizzen von Männern in obskuren Nöten, die sich zum Beispiel das Gehirn kämmten, oder an ihren langgezogenen Ohren schaukelten. - Ich fand das schon als Achtjähriger amüsant.
Jahre zuvor hatte ich mit Matchbox-Autos Massenkarambolagen nachgestellt, mit dem ganz großen Hammer aus der Werkzeugkiste (die nach Maschinenöl roch), später ein Autodafé mit Playmobil-Figuren veranstaltet, der kleine Großinquisitor mit dem BIC-Feuerzeug der Mutti (das meist auf dem Wohnzimmertisch lag, neben dem Päckchen ERNTE 23, das damals noch weiß und gelb war, nicht orangenfarben - das haben dann in den Achtziger Jahren die Illuminaten erzwungen).
Die Kriegslücken in den Häuserzeilen, die verlassene Schlachterei gegenüber der Heiligen-Geist-Schule, grauer Regen, Hochmoore, verlassene Heide, Totengrund. Verwesende Tiere am Wegesrand, Dabei war ich so ein bezaubernder, weizenblonder Junge mit Häschenzähnen und engelsgleichem Lächeln. (Minestrant aber nicht; das war nicht möglich in unserer existenzialistischen Familie, die nur aus Satre, Piaf und Rollkragenpullovern bestand).
Und immer wieder dieser Band von Topor. Ein seltenes Buch, schwer zu bekommen in den späten Siebziger Jahren (heute zu kaufen für ein paar Cent bei booklooker oder amazon).
Ich habe mich heute Morgen an dieses Buch erinnert, als ich vom Kindergarten zurück nach Hause ging, unter grauem, regnerischem Himmel, und darüber nachdachte, welche Bücher ich auf das oberste Regalbrett stellen soll, damit mein fünfjähriger Sohn nicht rankommt.
Er ist so weizenblond, hat ein so engelsgleiches Lächeln. Verstörung.

Freitag, 20. Dezember 2013

 
Anders stand es bei der Lyrik – sie war auch für Leihbüchereien kein attraktiver Geschäftsgegenstand, und es blieb den gesamten Zeitraum hindurch selbstverständlich, daß der Autor den Druck seiner Gedichte entweder gänzlich selbst bezahlte und dem Verleger gegen einen hohen Anteil am Erlös den Vertrieb überließ oder doch zumindest die Hälfte der Druckkosten bestritt. Dieses Verfahren brachte sehr geringe Auflagen mit sich, für die der Verfasser oft Absatzgarantien übernehmen mußte: etwa 250 – 500 Exemplare galten als üblich.
 
(Reinhard Wittmann über Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert in „Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert“, Tübingen 1982)
 
 
Die Schriftstellerei ist gegenwärtig kein Amt, sondern ein Geschäft, und die freie Concurrenz, das Gesetz der Natur, wie der ökonomische Liberalismus sie nennt, erzeugt überall hunderttausend Bettler als Staffage eines einzigen Millionärs.
 
(Joseph Lukas in „Die Presse“, 1867)
 
 
In der Meinung der „soliden“ Leute sowie der hohen Obrigkeit rangiert er zu den Vagabunden und muß es sich gefallen lassen, gelegentlich per Schub transportiert zu werden. Es ist so weit gekommen, daß die Bezeichnung „Literat“ von dem Begriffe der Geringschätzung, der Mißachtung unzertrennlich ist.
 
(Karl Weller in „Jahrbuch deutscher Dichtung“, 1858)
 
 
Wenn es einmal dazu kommt, daß die deutschen Proletarier mit der Bourgeoisie und den übrigen besitzenden Klassen die Bilanz abschließen, so werden sie es den Herren Literaten, dieser lumpigsten aller käuflichen Klassen, vermittelst der Laterne beweisen, inwiefern auch sie Proletarier sind.
 
(Friedrich Engels in „Die wahren Sozialisten“, 1847)

Mittwoch, 22. Januar 2014

 
Es gibt Lichtstimmungen, die mich an meine Kindheit erinnern. Aber es ist mir trotzdem ein Rätsel, warum mich gerade dieses hellgraue Winterlicht in die Kindheit bringt, das heute vom frischen Schnee in mein Zimmer reflektiert wird.
Und dieses hohe Zimmer mit dem floralen Stuck des Jugendstils, mit dem Fischgrätparkett und den ägyptisierenden Türklinken erinnert mich ebenfalls vage an meine Vergangenheit, obwohl ich in einer ganz anderen Wohnung großgeworden bin. In den winzigen Räumen eines mittelalterlichen Hauses, in dem eine dunkel gebeizte Barocktreppe in die Hausdiele führte; mit kalten Kammern, in denen die Fenster nach außen hin öffneten. Bei Sturm schlugen die Fensterflügel gegen die Fassade, im Winter waren die Scheiben überzogen von Eisblumen.
Es gibt Bilder in meinem Kopf, die wie Ikonen an meine Schädelwand gehängt sind, aber ich weiß nichts mit ihnen anzufangen. Ein anderes Zimmer erinnere ich, da war die Stirnwand mit einer Phototapete bedeckt, ein tiefgrüner Wald, sonnendurchflutet, spätsommerlich, vielleicht auch schon herbstlich. Da hätte ich reingehen können, denkt das konservierte Kind in mir.
Aber ich bin in diesem Zimmer niemals gewesen. Ich habe jahrelang über diesen Raum nachgedacht. Ich kann mir nicht versichern, dass dieser Raum existierte. Diese Fremdheit.
Draußen vor den Fenstern das Licht in den Hängen der Häuser, der Schnee auf dem ausgeglühten Asphalt.

Freitag, 24. Januar 2014

 
Am Insulaner (dem Hügel aus Weltkriegsschutt) befand ich mich heute Nachmittag in einem Brueghel, einem grau gefirnissten Barockgemälde.
Die Kinder schnellten auf ihren Schlitten den verharrschten Hang hinab, eingemummt in dicken Mänteln und Mützen, mit Dampf vor den Mündern, aus denen spitze Schreie der Begeisterung in die einsetzende Dämmerung hallten.
Eine Grisaille. Nur Grautöne waren wahnehmbar. Das feinste Perlgrau der beschneiten Wiese ging über in einen Himmel aus Granit.
Und unter diesem Himmel mein Junge und ich, auf einem Schlitten Marke Davos, mit roten Wangen und leuchtenden Augen; es hätte nicht barocker sein können.

Mit klammen, vor Kälte unter den Nägeln schmerzenden Fingern, zog ich meinen Sohn später durch die Kleingärten, und der Himmel über uns: groß und unwirklich, als wäre schon immer Winter gewesen. Glück könnte man das nennen.
Zu Hause dann fand ich einen großen Briefumschlag auf meinem Schreibtisch, den mir meine Frau hingelegt hatte. (Mein Briefkastenschlüssel schon vor Wochen verschwunden). Und sie selbst hatte sich ebenso hingelegt, zerschlagen von dem täglichen Broterwerb, aber doch auch mit glühend roten Wangen.
Im Briefumschlag eine Aufforderung des Arbeitsamts, der ich Folge zu leisten haben würde (irgendwelche Dokumente würden herbeigeschafft werden müssen), und die mir die Laune verhagelte.
Im Barock wäre ich ein Tagelöhner gewesen, oder würde in Frohn arbeiten, oder wäre bereits verhungert. Aber vielleicht mit mehr Würde.

Ach, im Barock zu leben wäre großartig gewesen. Formidabel, famos.
Der nächtliche Himmel übersät mit Sternen, die Landschaft in ein durchsichtiges Dunkelgrau gehüllt, in der Ferne ein paar Herdfeuer.
Gedichte hatten noch einen Wert, Facebook war noch nicht erfunden (das dieser Tage in einer amerikanischen Studie mit der Beulenpest verglichen wird).
Echtes Essen, direkt im Wald geschosssen (mit den ersten Flinten) oder gesammelt, auf den Feldern mit der Sense geerntet, von den Sträuchern gespflückt. Echtes Essen, wenn auch gelegentlich leicht über dem Mindeshaltbarkeitsdatum.
Keine Autobahnen, keine Windräder, keine Überlandleitungen, Hochspannungs-
masten, Maschendrahtzäune. Und rauchen durfte man in jeder Taverne, wenn auch nur Pfeife (Zigaretten sind ja noch gar nicht erfunden gewesen).
Und Wald! Viel Wald! Dichter Wald! (Mit Wölfen und Räubern).
Beulenpest! Blattern! Lepra! Englischer Schweiß (die mysteriöseste Krankheit der Menschheitsgeschichte).
Keine Antibiotika! Keine Betäubungsmittel außer Alkohol und Tollkirsche.

Ich wäre verreckt an der Meningokokken-Infektion, die mich vor fünf Jahren auf das Krankenlager warf, so wie in seiner Zeit vermutlich Mozart.
Oder ich hätte mir den Darm in einem Leistenbruch eingeklemmt, den ich mir vor drei Jahren operieren ließ (die ersten dieser Operationen wurden vor rund 130 Jahren von Eduardo Bassini durchgeführt). Ein eingeklemmter Darm ist kein Vergnügen; das Gewebe stirbt ab, wird nekrotisch. Man verfault bei lebendigen Leibe, wenn einen die Sepsis nicht vorher dahinrafft. (All die Verblichenen).
Ach, wie liebe ich das 21ste Jahrhundert! Die abgepackten, konservierten Lebensmittel, das elektrische Licht, die Gedichte der Kollegen, Wikipedea! Facebook!
Wenn ich in den Wald, wenn ich Wölfe und Räuber mit meinem Claymore-Schwert zerschlagen will, fahre ich das Notebook hoch und spiele: Vergessen. Oblivion

Freitag, 7. Februar 2014

 
(Kafka betritt das Behandlungszimmer. Benn schaut flüchtig von seinem Schreibtisch zu ihm rüber).
 
Benn: Etwas Venerisches, nehme ich an?
Kafka: Nein, Herr Doktor, nur das Gemüt.
Benn: Ah ja. Aber wieso kommen sie dann zu mir? Ich bin kein Nervenarzt.
Kafka: Es hieß, sie könnten etwas verschreiben.
Benn: Sind sie mir denn empfohlen worden?
Kafka: Ja, von Brod. Max Brod.
Benn: Ah ja. Und wie war doch gleich ihr Name?
Kafka: Kafka, Franz Kafka.
Benn: Kafka also. Mh. Tscheche, nehme ich an. Ich kenn den Namen. Sind sie nicht auch Schriftsteller? Wie dieser Brod?
Kafka: Nein, nicht in erster Linie.
Benn: Doch, doch, sie haben bei Wolff veröffentlicht. Jetzt hab ich's wieder. Irgendwas merkwürdiges. Ich erinnere mich nicht an den Titel. - Insekten, oder dergleichen.
Kafka: Nur eine unbedeutende Arbeit.
Benn: Ja, ist unser aller Arbeit nicht unbedeutend?
Kafka: Ich fand ihre Gedichte bemerkenswert. Ich habe sie unlängst in den Weißen Heften gelesen.
Benn: Wie auch immer. Genug davon. Was möchten sie denn verschrieben haben? Preludin?
Kafka: Nein, man hat mir Pyramidon empfohlen.
Benn: Ah, eine interessante Wahl. (Schreibt ein Rezept). Sagen sie, kennen sie nicht auch diesen Meyrink? Gustav Meyrink? Sind sie mit dem nicht bekannt? Der ist doch auch aus Prag.
Kafka: Nein, tut mir leid.
Benn: Ich meine, weil der auch aus Prag ist und so ähnliche Sachen schreibt wie sie. Auch so phantastische Geschichten.
Kafka: Ich glaube nicht. Eigentlich sehe ich da überhaupt keine Ähnlichkeit.
Benn: Nun ja, wie auch immer. Meine Frau liest den recht gerne. (Reicht ihm das Rezept). So, das wäre das. (Erhebt sich). Sagen sie, was führt sie nach Berlin?
Kafka: Meine Frau, meine zukünftige Frau.
Benn: Sehr schön. Und was macht die Arbeit? Neues Buch in Mache?
Kafka: Ja, über einen Landvermesser. Aber es wird nicht gut. Leider.
Benn: Keine leichte Sache, dieses Schreiben, finden sie nicht? - Ich habe es mal zu meinem eigenen Vergnügen durchgerechnet. Mit meinen Gedichten habe ich in den letzten zehn Jahren Zweimarkfuffzig verdient, im Monat, im Durchschnitt. Unglaublich blödsinnige Sache. Man weiß ja gar nicht, warum man sich das Ganze antut. Sagt meine Frau auch. (Geht zum Tresen, greift sich eine Flasche und zwei Gläser). Einen Cognac? Das ist doch das Einzige, was einen in Betrieb hält.
Kafka: Ich weiß nicht. Normalerweise trinke ich keinen Alkohol.
Benn: Einer wird sie schon nicht umhauen.
Kafka: Ja, vermutlich.
(Beide trinken. Kafka bekommt einen Hustenanfall).
Benn: Das hört sich aber gar nicht gut an. Ich bin zwar kein Fachmann, aber als Mediziner im Allgemeinen würde ich ihnen empfehlen, das untersuchen zu lassen.
Kafka: Oh, das ist nichts Neues.
Benn: TB?
Kafka: Ja.
Benn: Dumme Sache.

Mittwoch, 12. März 2014

 

GOPHER-SPACE.
Wenn das Internet nicht von dem WWW getüncht worden wäre, sondern von Gopher, in welchem Space würden wir uns jetzt bewegen?
Geld spielt keine Rolle. Aber Geld spielt eine Rolle. Aufgerollt die Möglichkeiten des BTX, Minitel etc pp. (Draußen im Hof kippt das Licht langsam hinter den Dachfirst). Ein Telefon von LOEWE vor mir auf dem Tisch (Tee, stark gesüßt. Mittelmäßiger Schweißausbruch lässt mich müffeln. Keine Zeit zum Duschen). Loewe, eine Firma, die es vermutlich auch nicht mehr gibt. Oder liegt das nur an meinen eingeschränkten Weltwahnnehmungen, an der fernsehlosigkeit, realitätsblödigkeit, der vergangenen Jahre, die so unregelmäßig als einzelne, aufgeteilte Streams sich in meinem TV-Kopf voneinander wegbewegen, wieder zusammentrudeln, sich aber nie mehr nicht vollständig berühren. So dass eine Erinnerung an das Jahr 2005 schon endlos lange zurückliegt, hingegen eine andere aus dem selben Jahr sich aus kürzester zeitlicher Distanz nähert. Zack.
(Zug aus der E-Zigarette, Autogeräusche draußen, Fensterrahmen, schon fast ikonenhaft oft fotografiert von mir, in den letzten Jahren, Zeit-Clustern. Lewitscharoffs missgünstiges Hausfrauengesicht nun vor dem inneren Auge (DAS INNERE AUGE - eine gänzlich lasche Selbstüberwachung. Spiegelung an die leere Leere vor mir, Luftleinwand. Aber doch recht konsistent diese grellroten Lippen der Lewitscharoff, grell, ungut - und dieser Löwe in ihrem Roman natürlich ein blödes Bild für nichts Wesentliches, eine fade Metapher, ausgewalzt zur Freude des überwiegend dümmlichen Feuilletons, das ja jetzt empört zurückrudert in seiner Weihrächerung der Mittelgroßschriftstellerin, die nun, Überraschung, Überraschung, all die Nichtigkeit ihres Vorstellungsdenkens auf ein weniger goutierbares Thema als Löwen gelenkt hat) - (Wieviele Klammern muss ich an dieser Stelle des Textes schließen?) ))) )))
Und immer diese ZEITNOT. Dem Sterben forsch entgegengeschritten. Ha, Hallo, da is er ja, kann ihn schon sehen, mit dem übergroßen Fernglas der Imagination. Aber weit weg noch eigentlich, noch nicht auf den Weg gemacht hat er sich.
Da hilft nur noch BACH. All dieser TechnikMüll auf dem Wohnzimmertisch (den ich als Schreibtisch nutze, seit ich nicht mehr rauche, und also die Wohnung volldampfen kann, mit meiner merkwürdigen E-Zigarette). Müll, der jetzt noch weltbewegend zu sein hat, mir aber, natürlich, natürlich, wir sind ja Empfindsam, für einen kurzen Moment die Sehnsucht, Sehnensucht, Muskelsucht (aufgehängt an Bogensehnen oder Klaviersaiten, oder Darmsaiten der Gitarre, die drüben, im Zimmer nebenan, ein staubiges Dasein fristet (Hey, ich könnte noch mal Lieder erbrüten, Rochstar werden, endlich Geld verdienen, mich lächerlich machen) nach allumfassender, landschaftshinterlegter, milde natureller Ruhe eingibt.
Aber das ist natürlich Schwachsinn. Das INTERNET muss ja am Laufen gehalten werden. BLOG BLOG. Ein Meckern wie von einer Ziege in mir.
Auch ein Neuananfang kann eine Niederlage sein. Eine Biederlage. Befindlichkeit: Null. Befremdlichkeit: Eins.
(Ich geh jetzt das GOPHER-Netz suchen. Vielleicht kann ich es mit dem Loewe-Telefon von 1991 erkoppeln ... ?)))

Mittwoch, 12. März 2014

 
Schwierig natürlich ganz und GAR (augekocht) ohne Filter zu schreiben, Gitane aller Schriftsteller (Fallensteller, Fuß in der Angel, bang wird mir ganz und gar dabei. Gans im Kochtopf. Hopp, hopp, rein ins kalte Wasser, gekocht wirst du bei 0 Grad Kelvin. Graduell ist das natürlich in erster Linie (auf dem Strich, du Nutte zu Literatur - © Rinck) ein Duell mit dem eigenen Kopfe ... wer wird siegen? Über- oder Unter-Ich. ES schreit geradezu nach einer wertigen, offenen und offenbaren Selbstdarstellung (Schauspieler-Sohn bist Schausteller geworden - Junger Mann zum Mitreisen gesucht. Nur zu alt dafür jetzt). Aber es ist natürlich ein KILLER, all die Gedanken (FETZEN, MUS) herauszuposaunen, tirilieren, abrasieren (Schweineborsten (wo kommt das jetzt her?), in einem Pinsel zusammengefasst, der ja ein grobes Bild (Tuschkasten, vielleicht auch ein Tusch von der Zirkuskapelle des LITbetriebs) pinseln könnte).
Aber die NAMEN der engsten Facebook-Kollegen (das Hirn mit Collagen aufgespritzt - ihres oder meines, das ist nicht so ganz klar) nennen? SELBSTzerstörung kann so lustig sein. Prustend sitze ich im Bett (auf dem Bett, im kann man nur liegen. Wobei, ich liege ja halb, halb zog es mich nieder (BÖSE Menschen haben keine Lieder), und draußen noch immer Licht, vor zwei Monaten war es noch dunkel, ich in DEPRESSionen sitzengelassen von meinem mir wenig wohlwollenden Selbst. FRÜHLINGSMANIE, nie habe ich dich vergessen, nun schlägst du wieder aus. RAUS aus dem Haus komme ich bald, im Schneckentempo (die Gelenke schmerzen, das Alter, ach, es schreitet, wie zu einer Pavane von LULLY)
Aber wirklich die NAMEN nennen, die ja im Kopf ungefällig umhergemurmelt werden, wie Murmeln, wie ein Murmeln. (GLASauge, Tigerauge, Halbedelstein - sei wachsam, das innere AUGE wacht, habt acht, wohl dem der hier noch FREUNDE hat). Auf FACEBOOK derweil wieder Kommentare der sinnlosesten Sorte. Alles fokusiert sich auf Leipzig, auf den zukünftig bepreisten NeulingsMITTELgroßschriftsteller. Weh, o weh, wohin sind verschwunden all meine WAREN, sinds die Bücher die noch unter den ARGUS-Augen der Entscheider dumm herumliegen, der Entscheider, die entschieden in andere Richtungen schauen.
Und wenn ich dann NAMEN nennen würde, wären die entschiedenen, die entscheidenden Blicke nicht vollends von den weisen Augendeckeln überklappt und abgeschirmt? (Sex, Eindrücke von Alltagsgeräuschen, SOUNDS, der Computer surrt leise, vor dem inneren Auge jetzt nichts, stattdessen vor dem äußeren: meine Hände, ausgedort vom Winter, überraschend faltig. Doch wenn ich die Brille ablege, dann ist alles wieder GUT. (Mechanisches Abschließen der Vorgänge. Nach Diktat dick vermilchreist. 80er-Schock, Jahre später, Werbepause, aus).

Sonntag, 28. Dezember 2014

 
Stellen wir uns die Dunkelheit als einen schwarzen Wackelpudding vor, eine mächtige, kubusförmige Götterspeise. Die Hölle als Einrichtungsgegenstand, ein infernales Möbel, Ikeas Armageddøn.
Nun hinein mit dem Kopf, so dass die Augäpfel, diese hundertjährigen Eier, ganz schwarz werden. Erst färben sich die Aderngeflechte wie bei einem Hollywood-Wiedergänger, dann all dieses Eiweiß. Und der Kopf klebt schon.
Hinein in die gute Stube den Leib, in den Pudding, der so paradiesisch im Wohnzimmer schwebt, oder in der Abstellkammer (doch, nein, die ist zu klein für den wachsenden, sich ausbreitenden, das Zimmer mehr und mehr einnehmenden Kubus). Nur noch die Füße staken heraus, die winterlich weißen Käsemauken.
Auslöffeln kann kein Schlaraffe diesen Pudding, dieses tiefe, dicke Schwarz.
 

Dienstag, 30. Dezember 2014

 
Aber möchten Sie denn überhaupt in mein Gehirn hinein schauen? Ja, bitte doch, hab ja nichts anderes. Ein Schneeberg mäandert in sich selbst und eist Denken hervor, die kleinen Kristalle, Blitze, fairies of abstraction. Eigentlich ist es ja leer dort, wenn man mal so in sich reinschaut, an einem stillem Abend, in den nur das familiäre Baby hinein schreit, in den Abend, als wäre der Abend eine unaufgeräumte Kammer, angefüllt mit glitzernden screams of the baby.
Wieso nur wird meine Persönlichkeit mehr und mehr britisch, wenn ich Britisch lerne? Wo versteckt sich der preußische Uniformknopf dann, an dem man meine transkontinentale Verwegenheit ausschalten kann? Verkaufe die Schlossallee, kaufe Bondstreet. Aber Persönlichkeit wird nicht daraus, nicht in 1000 Jahren.
Denn Persönlichkeit setzt mehr voraus, als Gerede im Kopf. --- Wie sich meine schreibenden Hände auf den Kopf fokussieren, wie die tippenden Finger das Gehirn ihres Körpers betrachten. Ein kopfloser Körper, der die Finger bewegt. Oder Finger, die ihren Körper veranlassen, sie zu bewegen.
Es wird nicht deutlicher im Schreiben, wer man ist, man ist, ist. Fraglich das alles, zusammen geleimt nur aus Versatzstücken der Erinnerungen (von wem, an was?), aus erlernten Sprachen, die friedlich vor sich hin plappern, die nicht mal einen Mund brauchen, Zunge schon gar nicht (und schwupps, kommt meiner Person eine Rinderzunge in den Kopf. Da liegt sie nun unter der Schädeldecke und schlabbert das Gehirn an).
Die Neurologen, die Nekromanten, selbst die Neopathen sagen alle vehement: man kann sein Denken nicht betrachten, nicht nachdenken über das Gedenkzeug. Aber ich sage: mir glückt das sehr wohl, wenn ich mich servil über meine Lappen beuge. Nur zu sehen bekomme ich da nix, zu denken schon gar nicht. Geplapper und Geschnatter der Fingerkuppen.
Ansonsten glotzt das Gehirn aus den Augen und schaut dumm aus der Wäsche.

Samstag, 10. Januar 2015

 
Fraglich ist, wie die Zeit verfasst ist, und ob wir aus ihr heraustreten werden.
Ein Kind hat mit etwa zwei oder drei Jahren ein Schwarzes Loch in seine Erinnerung gestellt bekommen (von wem?); ein Cleaner, ein Vacuum zieht ihm die bisherigen Erlebnisse aus seiner Jetztzeit, wischt das Kind von innen aus. Zuvor aber kann sich das Kind zurückerinnern, funktioniert das Langzeitgedächtnis auch im Alter von 1 1/2 Jahren, kann das Kind fern zurückliegende Geschehnisse repetieren. Danach nicht mehr - als wäre ein geschlossenes Tor nötig, um es von der weiteren Rückerinnerung abzuhalten, über die Geburt hinaus.
Mein Sohn erzählte im Alter von zwei Jahren einmal, dass er sich an ein früheres Leben erinnern könne. Meines Wissens hatte niemand jemals zuvor mit ihm über das Konzept der Reinkarnation gesprochen, aber vielleicht hatte er das Thema irgendwo in der Nachbarschaft oder im Kindergarten aufgeschnappt.
Diese Ausweglosigkeit der Wiedergeburt: kein Paradies, keine Jungfrauen, keine Stille, kein Traum. Nur Trauben in jedem Leben, wieder und wieder. Eine nie enden wollende Mühsal. Vielleicht sehen Säuglinge deshalb so häufig wie kleine Greise aus, Omis und Opis auf Durchreise.
Wen haben sie gesehen, wen werden wir sehen?
Und warum fallen in meinem Haushalt unwillkürlich Plattenstapel vom Klavier, kurz nachdem meine Tochter geboren ward, kurz nachdem die Geister vorbeischauten?

Samstag, 4. Juli 2015

 
Nicht in den Wind gesprochen, in den Datenstrom gewispert, in das digitale Rauschen. (Digitales Rauschen - auch schon so ein antiquierter Begriff, wie Cyberspace, wie Kom-putter ... alles so Omi-Worte aus den mittleren 80ern, als noch mit Lasern geschossen wurde, gleich nach der Drehscheibe im ZDF).
Aber Unsterblichkeit gibt es nicht an den Tresen der Literaturhäuser. Der Dichter muss sich treiben (mit den neuesten Dichter-Treibern von Nvidia), um diese Mistkugel aus Schriftzeichen den Berg der Zukunft hochzurollen.
Angenommen der Dichter wird zum Klassiker, wird Nationalheiligtum, ein Bismarkhering der Dichtkunst, ein Metternich-Sekt (der täglich vom ETA seiner Zeit gesoffen wird, in Auerbachs Loft am Gendarmenmarkt, im dritten Kreis des Berghains, in der Hitparade der Sterne, sternhagelvoll unterm Mond von Berlin ... O, show us the next Berthold Brecht, I tell you we must find the next Berthold Brecht).
Dann, ja, dann kann der Dichter mit ein paar Jahrhunderten Nachleben rechnen (das Nachleben des Nachtlebens, so to say), damit rechnen das Teile seines Gehirninhalts, oder besser, eine (BETA)Simulation seiner Meinungen und Erinnerungen in ein paar anderen, nachgeborenen Gehirnen überdauern (sofern sie vorher nicht von Rönne seziert werden, in stumpfsinniger Routine).

Aber was sind das schon, ein paar Jahrhunderte? (Nebenbei: leider bekommt der Dichter ja nichts mit von seiner Simulation ... man müsste ein so komplexes Buch programmieren können, das es zu Bewusstsein gelangt, ein sich selbst lesendes, ein sich selbst lektorierendes Buch). 200 Jahre, 300 Jahre, wenn es gut läuft. Das ist gerade mal die drei bis vierfache Lebenszeit des Orginaldichters, der (sozusagen) Alphasimulation, nein, eher des Nullobjekts.
Welche Dichter aus dem 16ten Jahrhundert fallen ihnen spontan ein, lieber Leser, liebe Leserin? (Regieanweisung: von der Seitenbühne ins Publikum gesprochen. Dann: Exit ghost) Hans Sachs? Keine Zeile von ihm hat sich in mein Gehirn eingeprägt. Wieviele aus dem 15ten? Wieviele aus dem 14ten?
Alles ist eitel! (Immerhin den Andreas, den kann der gebildete Zeit-Konsument noch zeilenweise zitieren).

Also doch lieber Kinder in die Welt penetrieren ("Wir sind in die Welt gevögelt und können nicht fliegen", Werner Schwab ... mittlerweile auch schon wieder ein halb Vergessener)?
Die Enkelkinder schon haben nur noch ein Viertel der Information aus den innersten Innereien des Dichters in ihre Festplatten entpackt, und ob diese Programme dort laufen, oder nur Speicherplatz verschwenden, das lässt sich schwerlich klären.
Urenkel ein Achtel. Nach 200, 300 Jahren sind die Dichterquanten maximal in homöopathischen Dosen vorhanden, im Bewusstseinsschaum der Nachfahren.
Die fahren lieber nach Venedig und tauchen nach Ruinen.

Ruiniert ist also der Glaube an die Unsterblichkeit in wenigen Sekunden. Patsch, mit dem nassen Handtuch der Analyse direkt ins eitle Gesicht des Dichters. Patsch, patsch.
Gepatcht wird dieses Bewusstsein nimmermehr, das bleibt jetzt so, das passt schon. Auch wenn es vorzeitig in den SCHLUND saust, der da heißt HADES. (Ach, hör mir doch auf, mit diesen dramatischen, römischen Elegien. Da reagier ich allergisch drauf).

Lieber aufhören zu dichten, stattdessen Genetik studieren und das Leben verlängern. Die 200, 300 Jahre, das kann doch nicht so schwer sein.
BORG mir dein Bewusstsein, ich BORG dir meins. "Dein BAC, mein BAC" schon in zwei Generationen vergessen, all die schönen Werbesprüche meiner Kindheit werden mit meinem Bewusstsein ersterben. BLOG, BLOG.

Montag, 6. Juli 2015

 
(Pseudo)Coding Neukölln 1
 
void awake. void start. player position new. find child.
Waren die Menschen auf der Karl-Marx-Straße früher auch schon so bodenlos in sich selbst gestürzt, ihr Leid derart aufgetürmt in ihren Körperschatten? Hinter dem Horizont geht’s weiter, dort lauern in lauer Luft die Lemuren, trinken den Eierlikör aus großen Eimern. Hey-Ho, hier geht’s in den Zuschauerraum. Kommse rinn, werter Herr, tretense ran, gnädige Frau. (Ein billiger Zirkus. „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“). (Alle Wege müden in graue Verwegung).
void awake. void start. player low, terrain black. if neukölln, then dunkelheit über menschheit.
In den Scripten stehen die Wahrheiten über die Räume, über die Oberflächen. An den Innenflächen nur Werbeplakate, das Fernsehprogramm (debile Geishas in den weiten Ebenen von RTL).
An den Straßenenden endgeile Opfer mit abgefuckten Messern in den Händen, die Klingen nach vorne, die Arme hoch, flieg, krieg dein Kampfgeschehen in den Kopf und sieg. Krieg.
In den Schwimmbecken so ein Flair der Jahrhundertwende. Burkinis und gezwirbelte Schnurrbärte (manchmal auch Bakunins). Im Hintergrund Jugendstilbauten, frisch verputzt zum Trockenwohnen. Abgespackte Styroporplatten. Aber 20 Emchen pro QM.
void asleep, schlaf mein Prinzchen still im Prinzenbad. Du bist ein eingekreuzter Bürger in Neukölln. Friedenaulich zwischen gestützten Klonkriegern. (Wenig witzig, wirres Wortspiel, alberne Alliterationen).
void asleep. Sterben, schlafen, träumen vielleicht. {Script end}
 
(Oh, C-Shark has pretty teeth, dear / and he shows’em pearly white)

Mittwoch, 8. Juli 2015

 
(Pseudo)Coding Neukölln 2

Ei, was will das Gehirn denn? Ja, ei, was will das Gehirn denn Schönes? Will es Happi-Happi machen? Braves Gehirn, ei, ganz braves Gehirn. FASS!
Blutsäufer-Gehirn, oder: Der Kampf als inneres Erlebnis des Videogamers.
Trigger, focus, PASSANT. Time-delta-time. 180 frames per second. Und dann immer schön rein in den heilig-nüchternen Morgen, auf den Straßen Neuköllns, gleich bei der Aral-Tankstelle, mit dem Sturmgewehr, über uns der Sturm. Später Platzregen. Dann Sonne wie eine A-Bombe (platzt). Dieses Level leider schon zu Ende.
FASS! Wieso apportiert das Gehirn so gerne Leichenteile, Totentorten, Menschenhack?
Solln doch froh sein, dass kein Krieg mehr is. Solln doch froh sein, diese ganzn Friedensstifter. Geht doch stiften. Mitm Stift könnt ich ihre Aug ausbohrn.
Stattdessen: Pizza + Roter Bulle + Ballern. Oder lieber mitm Schwerte schnetzeln.
Solln doch froh sein, kopflos, abgeregt.
Regen draußen, Random-Gegner.a

Sonntag, 24. Januar 2016

 
Wie es in das Internet hinein ruft, so schallt es hinaus.
Eigentlich ist  die Welt, die Wohnung, die Straße dort draußen, mit ihren vermanschten Mensch-Imitaten nur noch eine Schale um den virtuellen Raum.
Das große Versprechen: die zweite Realität, Second life. Das Interface in den Innenraum. Aber außer Gerede ist nicht viel gewesen. Facebook mehr ein Purgatorium, in dem die Seelen durcheinander tuscheln.
Auf den Straßen - die erste Schale, die erste Sphäre des neuen Himmelsmodells - Bäume, dunkelgraue, blattlose, wie verkrüppelt wirkende Bäume, bei denen man sich nicht mehr sicher sein kann, dass sie am Leben sind. Ihre Wurzeln lange schon verschlungen mit den Glasfaserkabeln unterm Asphalt.
Alles aus Sand gebaut: die Straßen, die Häuser mit ihren Fenstern, die Glasfaserkabel, die Siliziumchips. Grundstoff: Sand. In einer Million Jahren werden wir einen riesigen Strand hinterlassen haben.
Bis dahin tödliche Gleichform der Dinge, keine Änderungen in den letzten vierzig Jahren, nur ein bisschen neue Tünche. Autos dazwischen, als letztes Mobile, die Bewegung der Straße. Da flaniert der Wind und der Staub, der Feinstaub, der feine Staub. Dust to dust.

Was macht eigentlich mein Avatar in Second life, der dort dumm seit 2007 herumsteht, niemals abgemeldet wurde, in irgendeiner Ecke kauert und auf ein Spiel wartet, das nicht stattfinden wird? Der Homo ludens hat eingepackt, hat sich eingeparkt in der Arbeitsbucht im Großraumpurgatorium. Flache Hierarchien in der Hölle.

Mittwoch, 27. Januar 2016

 
Um ohne Haut spazieren zu gehen, braucht man eine gute Outdoor-Jacke.

Dieses Urvertrauen in die Umwelt, dass sie einem freundlich gesinnt ist, dass nicht zehn Menschen am S-Bahnhof auf die Idee kommen, ihre Messer zu zücken, um einem die Innereien aus dem Inneren zu schneiden.
Dieses Urvertrauen, dass kein Irrer kommt und einen auf die Gleise stößt. Ein Murmeln und Brabbeln hinter meinem Rücken, schleifendes Geräusch von ausgetretenen Schuhen (Nike, dreckig, Schnürsenkel zerrissen). Dann ein Atem im Nacken. Wispern und Gestank. Dich krieg ich, du hast zum letzten Mal meine Mutter beleidigt.
Über den S-Bahnschienen ein grauer Himmel, der nicht in Flammen aufgeht. Keine Jagdflieger am Horizont, kein Atompilz über der Stadt. Aber vielleicht schon Radioaktivität in der Luft, entwichen aus einer schmutzigen Bombe, gezündet in Hellersdorf, von einem Terroristen ohne Gesicht, einem schwarzen Schemen, nein, einem in die Realität geschnittenen Nichts. Platzhalter des Grauens.

Dieses Urvertrauen.

Samstag, 30. Januar 2016

 
Über Fleisch (I)

Die Familie war in die Ferien gefahren, und ich dachte mir: autistischer Männerabend mit Schwein.
Also kaufte ich mir bei Netto eine große Packung Koteletts, 700 Gramm für 2.99 Euro im Sonderangebot.
Ich habe mir zwar vor einiger Zeit das Vertilgen von konventionellem Fleisch abgewöhnt, aber manchmal ist der Wille schwach und das Geld knapp. (Ich bin Armut gewohnt, kenne kaum etwas anderes im letzten viertel Jahrhundert, bin diesem Zustand völlig stoisch gegenüber geworden, und es gibt nur zwei Dinge, die mich wirklich stören. Dass ich nicht einfach sagen kann: Egal, von nun an nur noch Futter aus dem Biomarkt. Und einmal im Jahr Schuhe für 150 Euro).

Nun stand ich also in der Küche - nachdem ich den ganzen Tag "Transparent" geschaut hatte (was mir mehrmals die Tränen in die Augen trieb), im Bett, im Schlafanzug, mit einem Übermaß an schokolierten Erdnüssen und Waffelröllchen - und das Fleisch glitt roh und wabbelig in die Pfanne.
Solch Supermarktfleisch war ja noch nie die wohlschmeckende Wahl, nichtsdestotrotz fragte ich mich, was sich in den letzten Jahren geändert hat in der Fleischproduktion? So ein Dreck ist schwer zu übertreffen.
Das Fleisch schurrte zusammen und wölbte sich mittig auf, wie von einer schlimmen Krankheit aufgedunsen. Das wurde nicht besser durch die Flüssigkeit, die sich in großen Lachen in der Pfanne sammelte. Sie sah ein bisschen aus, wie der Saft einer schlecht heilenden Wunde.

Aber ein Mann muss die Zähne zusammen beißen, in das Schwein beißen. Was ich dann auch tat. Widerlich. Das Zeug, diese Tierreste, schmeckte wie Nichts mit einem Hauch vom Fäulnis, so dass ich den Bissen sofort wieder ausspuckte, und die zwei gebratenen, wie auch die zwei rohen Koteletts im Mülleimer entsorgte. Zusammen mit der Beilage, gehackter Fenchel, um den es mir am meisten Leid tat.

Man sollte diesen Dreck nicht essen, man sollte überhaupt kein Fleisch essen, denn man isst damit nebenbei den Regenwald weg. Man lässt Tiere leiden, und dann schmecken sie nicht einmal, wenn sie endlich tot sind. Ich sollte das nicht mehr essen.

Von Ende zwanzig bis Anfang vierzig war ich Vegetarier, und bevor ich 2010 Veganer hätte werden können, kam mir ein All-you-can-eat-Büffet in Mallorca dazwischen. Zwei Wochen Reis oder Berge von Fleisch zur Auswahl.
Kurz darauf probierte ich aus Interesse, und weil ich es ja plötzlich wieder auf dem Speiseplan haben konnte, Paleo food aus und entdeckte damit den Grund meines jahrzehntelangen Magenleidens: Zöliakie.
Weil ein streng glutenfreies Leben recht anstrengend werden kann, besonders wenn man außer Haus essen möchte, verzichtete ich fürderhin auf den Vegetarismus.

Aber wieso esse ich eigentlich wieder Fleisch? Wo ist der Idealismus hin, der mich mit 28 dazu brachte Vegetarier zu werden, die ethische Verantwortung vor dem Tier? Abgeblättert wie schlechte Farbe. Das Alter macht bequem und träge.
Dabei mag ich gute vegetarische und vegane Speisen viel lieber, aber sie sind aufwändiger zu kochen als Kotelett und Kartoffeln.

Ein Problem war auch schon damals für mich, dass wenn man aus ethischen Gründen Vegetarier wird, man eigentlich gleich Veganer werden muss. Geschredderte Küken und moderne Milchviehhaltung sprechen deutlich gegen den Vegetarismus. Ganz zu schweigen von Lab im Käse (wobei ich die letzten Jahre meiner vegetarischen Phase kein tierisches Lab und nur noch selten Bioeier zu mir nahm).

Und nun stehe ich hier, in dieser einsamen Küche, und fresse Schweine, Gen-Soja, den Regenwald. Fresse dem Trikont die Nahrung weg. Warum?

Mittwoch, 3. Februar 2016

 
Über Fleisch (II)

Stattdessen also lieber wieder Bio-Wiener, das abstrakteste Fleisch der Welt, wenn man vom Mystery meat in der Bolognese absieht.
So schmeckt es doch am Besten: so fleischfern, runter gerührt, den Tod verdeckend. Produkte, die ganz unlebendig sind, in ihren Klarsichthüllen, verglasten Kühlschränken.

Kaum zu glauben, wie weit wir uns, wie weit ich mich vom Schlachthof entfernt habe. Einmal, als Jugendlicher, bin ich an einem vorbei gegangen, weit draußen vor der Stadt, da wo die Schlachthöfe versteckt sind, am Rand der letzten Teile von Wildnis. Das Quieken der Schweine, wenn sie abgestochen werden, nicht mehr zu hören. Das Rotieren des Hähnchen-Schredders, nicht mehr zu spüren in meinem Teil des Lebens.

Ich kann mich gut erinnern, wie ich seinerzeit im Kaufhaus Kerber in der Grapengießerstraße (Lüneburg)Wiener Würstchen geschenkt bekam, ein kleiner weizenblonder Knabe auf dem Arm seiner Mutter, die am Wursttresen stand - 150 Gramm Bierwurst, 100 Gramm Cervelatwust, drei kleine Schnitzel (Sind die auch gut abgehangen?). Junkie-Träume.

Stattdessen also lieber Bio-Wurst, ab und an, Bio-Rinderlappen, ab und an.
Doch was eigentlich reizt mich denn noch am Fleisch, hat mich je gereizt? Salz und UMAMI, vor allem letzteres! Dieser Geschmack von Tier, dieser Mundvoll UMAMI.

Und den kann man ja auch Vegan haben. Vorgestern kochte ich für einen Freund (ein früherer Freund des Schweinemedaillons) Nudeln mit Bolognese, und die Bolognese bestand aus Sojaschnetzel, sehr viel Sojasoße (wirklich sehr viel), Tomatenmark, Fenchel, Möhren, etwas Curry, etwas Ingwer, etwas Paprika. Doppelplus Knoblauch. Und was wurde es? Es wurde Umami!

Samstag, 26. März 2016

 
" [...] und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil".

Ich habe ja auch einen Migrationshintergrund. Einen unsichtbaren. Doch mit zunehmendem Alter fange ich an ihn ernst zu nehmen. Muss nicht mehr innerlich lachen, nur noch lächeln, wenn ich über meine Lage in der Fremde nachdenke.

Meine Mutter übersiedelte 1963, als Zwanzigjährige und kaum Deutsch sprechend, von Den Haag kommend nach Lüneburg, Niedersachsen, wo ich sieben Jahre später geboren wurde.
Sie hatte dort ein Engagement am Ballett des Stadttheaters bekommen.
Sie war anders als die Deutschen, die Deutschen waren Nazis und grobe Schlachtergesellen, sie war eine Waldelfe von der Waldorfschule (die sie in den 40er und 50er Jahren in Den Haag besucht hatte, was sie um so fremder werden ließ, im Lande Adenauers und Erhards).

Da mein Vater späterhin die meiste Zeit Anstellungen an Theatern anderer Städte hatte, die Familie aber, bis ich neun Jahre alt war, in Lüneburg wohnen blieb (in einer winzigen, dämmrigen Wohnung, in einem 500 Jahre alten Haus), zog sie mich die meiste Zeit alleine groß. Und sprach mit schwerem Akzent, machte grammatikalische Fehler, die ich heute selbst noch mache; bei jeder M- oder N-Endung muss ich kurz in mich gehen, mich konzentrieren, um mich für den korrekten Form zu entscheiden. Weet je wel?

In unserer Familie wurde warm zu Abend gegessen, nicht am Mittag, so wie es all die Familien der Freunde hielten, und es gab indonesisches Essen, als die Freunde dieses Land noch nicht mal auf dem Globus fanden. Und wenn wir erst bei dem (angeheirateten) halbindonesischen Onkel zur Reistafel eingeladen waren; die deutschen Wirsingköpfe der 70er Jahren machten sich keine Vorstellung, wie scharf Gerichte sein konnten.

Lakritz, Pfefferminz, Erdnussbutter, echter Käse. Reiskräcker, englisches Teegebäck, Fla, Patatje Oorlog. All das sind mir Kindheitserinnerungen. Mit Schweinshackse und Mettigel habe ich nichts zu schaffen.
Doch das waren nur Äußerlichkeiten. Was mein Selbst viel mehr prägte waren die holländischen Kinderbücher, die mir meine Mutter jeden Abend vorlas (Paulus de Boskabouter!) und der scharfe Verstand meines Großvaters, einem germanophilen Intellektuellen, der die Heirat meiner Eltern in einer Zeit ermöglicht hatte, als einen Deutschen zu heiraten in Holland noch als Landesverrat galt.

Die Abgeklärtheit und weltfraulichkeit meiner Kette rauchenden Großmutter (britische Zigaretten), die gerne Mahjong spielte und ihr Frühstücksbrot mit Messer und Gabel aß.
Das Goldene Zeitalter der Barockmalerei, das Licht der Aufklärung, dass sich viel besser in jenem Land gehalten hatte, als in diesem Deutschland, in dem die Wikingjugend Sonnenwendfeuer abhielt, in dem die Kriegsveteranen mit abgeschossenen Armen durch die enge Fußgängerzone zockelten.

Aber meinen Vater, dem Hamburger, dem Schauspieler, dem Hallodri, dem sollte ich ähnlich sehen, mit dem wurde ich gleichgesetzt. Dabei war ich innerlich doch auch eine verloren gegangene Waldelfe aus den Dünenwäldern von Scheveningen.

Ich bin, das wird mir erst spät bewusst, viel mehr wie meine Mutter. Ein Teil von mir lebt in Den Haag, an der Küste, im Licht der Straßen, im Licht der Passagen. Nahe dem Grab meiner Großeltern, nahe dem Grab meiner Mutter.

Montag, 16. Mai 2016

 
Am Vorabend des Krieges I

Gebannt schauen wir auf die Screens und warten auf den Scream der Barbaren. Aus dem Berberland, aus dem ganzen Libyen, vom schwarzen Kontinent; darauf dass sie driften, auf Booten, Flößen, Luftmatratzen. Schwarze Materie. Hinein in das Universum des Lichts, in die Galaxie der Aufklärung, die uns ja ganz allein gehört. Dieser schöne Kontinent, bald geraubt von einem Stier aus dem Atlasgebirge.

Gerade gab die NASA im Rundfunk durch, der April dieses Jahres sei der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen (cruel month, indeed). Und in Äthopien dorrt die Erde aus, die Menschen fallen in den Hunger zurück, fallen in den Tod zurück schon bald.

Gottgefällig, selbstgefällig, vom Geburtsrecht gepudert sitzen die heimischen Bürger heimelig an ihren Herden und Geräten, das Flackern in den Augen gespiegelt, und sind sich ganz und gar sicher: die dürfen nicht hier her, die sollen im Mittelmeer ersaufen.
Aber nur Tausende werden ersaufen, Hunderttausende werden durchkommen. Eine winzige Vorhut, eine Avantgarde der kommenden Kriege.

Wie der kleine Bürger mit dem spitzen Kopfe meint, die sogenannte Flüchtlingskatastrophe wäre eben nur eine Katastrophe, ein Zufall, der leicht zu bändigen wäre mit den richtigen Waffen an der richtigen Grenze.
Nicht mal ein Blinzeln in die Zukunft gestatten uns die paar Hunderttausend. Wenn ein ganzer Kontinent austrocknet, der nur von einer Pfütze von Mittelmeer von uns getrennt ist, dann werden alle Spielkarten und Landkarten völlig neu verteilt werden.

Eine neue Völkerwanderung steht an. Ach, was sag ich, nein, eine Kontinentaldrift ganzer Völker wird losgestoßen werden, wenn erst das Klimaziel von zwei Grad plus erreicht ist.
Und diese Menschen werden sich nehmen, was wir ihnen so lange vorenthalten, was wir ihnen gestohlen haben.

(Derweil die Fussballnationalmannschaft in Ascona/Schweiz Vanille-Kipferli futtert. In einem Kurhotel am besten Platz. (Ganz späte Lebensreformer). Die Lokalmannschaft wurde ausradiert. Ach, nein, ausquartiert.
Und in Kreuzberg: Karneval der Kulturen. Saufen bis der Witch-Doctor kommt.
Doch hier in Schöneberg ein Wechsel von Musik und Stille. Gutes glutenfreies Essen. Fröhliche Gäste, Sonnenschein. Auf Bewährung im Garten Eden).

Freitag, 30. Dezember 2016

 
Aber der Tod.
Wie sprechen über das tot, die tot, der tot?
Wenn die Körpereinheit durch die Zeit klappert, grauer werdend, Metapher werdend für sich selbst im Ableben, Abspulen des Films. Schnitt. Black. Fade.

Z.B. mein Vater: starb ohne Furcht, obwohl er nicht an ein Nachleben glaubte, nur an die Schwärze im Blick, das Nichts der Zukunft. Trotzdem er seine Hände wandern ließ durch die Luft, den Äther, das Fluidum, in seinen letzten Tagen, im Hospiz, krebszerfressen, oder eher krebsgeschwängert.

Z.B. mein Vater: wisperte mit den Toten, die über ihn gekommen waren, in seinen letzten Tagen, obwohl das am Krebs gelegen haben könnte, an der zerfressenen Leber, und ursächlich daraus an der zunehmenden geistigen Wirrheit, Verwirrung ... winddurchkämmt das Gehirn, von einem Hauch geschüttelt, Prophet des Nihilismus.

(Ich fand heut kaum noch etwas von ihm, im weiten Internet, im Hades der Homepages und Kanäle (Styx). Ein toter Schauspieler, nur noch öffentlich abgebildet in einigen vergänglichen TV-Serien der 60er Jahre. Ruhm, ach, Herbst, Blätter, leichter Wind. Stattdessen eine spanische Sendung über meinen Bruder, der Spanisch sprach, und den ich nicht verstand, und der mit dem Alter mehr und mehr ausschaut wie unser Vater ... ich weniger und weniger.)

Kann man sich den Tod nicht vorstellen als einen unendlich gedehnten Moment, der vor dem endgültigen Ableben stattfindet, und der dem Bewusstsein als ein Nachleben vorkommt, das Licht, der Tunnel, das Licht. Ein Moment der ewigen Erkenntnis, der letzte Moment des Lebens spreizt sich auf an der Mauer des Todes, eine Flutwelle, gebrochen am Stein der Toteninsel.

Ach, Toteninsel, was für ein Unsinn, was kann mir Böcklin über des Sterben meines Vaters schon sagen, was über meines?

Stille Tage in der Dämmerung. Schmerzen in Friedenau. Aber kein einziges graues Haar im Spiegelbild.

Samstag, 31. Dezember 2016

 
Der Geruch von Tod: wie kaltes Kalbsfleisch gemischt mit Ozon.

Wir fanden in der Küche drei leere Streifen Kopfschmerztabletten, ein halbes Glas Wasser. Die Wohnung war aufgeräumt, ist in meiner Erinnerung aber in einem Zustand der Verwüstung.
Fußstapfen waren keine zu sehen, auch kein Leichenabdruck im Flur. Dort lag der Körper, zehn Tage lang ... von der Kloschüssel durch die offene Tür gekippt. Sekundenschlaf.

Z.B. meine Mutter. Man sagt, dich soll der Schlag beim Scheißen treffen. Aber ich wüsste keinen, der ihr das gewünscht hätte.
Im Sommer, wenn die Erde weich ist für ein Spatenblatt. Aber zehn Tage im Flur hatten ihrem Körper nicht gut getan, erzählte man mir. Die Nachbarn hatten es gerochen. Kaltes Kalbsfleisch wohl nicht. Dieser Geruch hing erst in der Wohnung, nachdem das Säuberungskomando hindurch gefegt war.
Die Windspiele an den Decken, die Sonnenstrahlen zart zwischen den Glasfronten von Wohn- und Schlafzimmer. Die Hitze des Sommers.

Die Schlieren auf den Fenstern wie Eisblumen.
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.
Sie hatte Elfen und Zwerge gesehen, sechzig Jahre zuvor, in den Wäldern im holzlosen Holland, auch im kleinen Garten hinter dem Haus, hinter dem dunklen, schattendurchfluteten Haus. Später wurde ihre Hellsicht von schwarzer Galle verdunkelt.
Die Tage in der Irrenanstalt, Licht auf den Resopaltischen, weißlackierte Türen, geschlossenes Leben. Die Notwendigkeit, eine Elfe zu sein.

Ich erinnere Eisblumen auf den Fenstern im Winter, ihre kühle Hand auf meiner Stirn, Fieberträume die sich in den Tod öffneten. Eine Wand aus rieselnder Leere, der Körper im Nichtschlaf gefangen, riesenhaft, aufgebläht. O, und die Augen, vollgestopft mit Blicken.

Z.B. meine Mutter, wie sie auf ihrer Leopardencouch sitzt und Zigaretten dreht. Die Hände flattern bei jedem Satz durch die Luft, Albinofledermäuse. Atemzüge. Sekundenschlaf.

Dienstag, 3. Januar 2017

 
Dies ist die Zeit, von der wir als die roboterlose berichten werden, so wie wir heute unseren Kindern von den 70er Jahren erzählen, in denen es noch keine Mobiltelefone gab, keine Homecomputer und kein Internet.
 
Als 8-bit-Spiele noch keine Kunst waren, sondern Notwendigkeit. Als nach Übersee nur der Jet-Set flog.
--- Als dein Großvater noch jung war.
 
„Aber, Opa, eine Welt ohne Roboter, da hätte ich ja kaum Freunde gehabt. Ich hätte den ganzen Tag im Realitätsraum verbringen müssen “
Ich räuspere mich bedächtig und schaue meinen Enkel an. Seit er Pyramidon nimmt, kann er endlich ruhig sitzen.
„Weißt du, Jin-Quirin, ich sage es dir nur ungern, aber Realitätsräume gab es damals auch noch nicht, nur die ersten VR-Brillen, und besonders gut war die Auflösung von denen nicht, man konnte Realität und Realitätsraum gut unterscheiden. Heutzutage kann man das kaum noch.“
Jin-Quirin lächelt: „Du vielleicht nicht, aber du bist ja schon alt“.
 
--- In der Jetztzeit entwickeln sich die Dinge: schon heute stellt Boston Dynamics hervorragende Menschmaschinen her, zugleich arbeitet die kalifornische Elite an künstlicher Intelligenz. Kombiniere beides mit Massenproduktion in Shenzen, und schon hast du die Zukunft vor Augen.
 
Die Sexroboter werden die ersten sein, so wie die Sex-Tapes bei den Homevideos die ersten waren, wie die Porn-Pages im Netz die ersten waren.
 
Und dann die echten Androiden für den Haushalt, als Spielkameraden für die Kinder, als Menschen auf der Straße.
 
Wenn ich zusammenrechne was jetzt schon mit Silikon, Chat-Bots und Robotik möglich ist, kann ich voraussagen: wir werden die neuen Menschen nur sehr schwer von den alten unterscheiden können. Jedenfalls die öffentlichen. Die Androiden in den Fabriken und Büros werden weniger lebensecht aussehen, aber um Potenzen produktiver sein als wir.
Humans need not apply.
 
Und diese Welt davor, in der wir noch Momente leben werden, die gilt es jetzt zu beschreiben, aus einer Perspektive, die aus der Zukunft zu uns schaut. Denn ein Blick aus dem Loch der Gegenwart wird uns später unspezifisch vorkommen, so wie mir heutzutage die Erinnerungen der Glückel von Hameln unspezifisch vorkommen, die sie vor mehr als 300 Jahren aufschrieb, und aus denen ich wenig über den Alltag ihres Lebens und des Lebens ihrer Mitmenschen erschließen kann, obwohl es doch Aufzeichnungen einer Frau aus dem Volk sind, keine abgehobenen Berichte & Betrachtungen eines Adligen. Aber ihr fehlt die Perspektive, sie sieht nur, was sie gelernt hat zu sehen.
 
Die Gegenwart in ihrer Fülle kann man nur mit dem Blick des Zeitreisenden erschließen.

Donnerstag, 22. April 2021

 
24 Milliarden Euro müssen die Herren der deutschen Atomindustrie für die Entsorgung des angefallenen Atommülls zahlen, dann sind sie wieder schuldlos, die Zerstörer. Derweil die Linguisten noch immer darüber streiten, welche Piktogramme in 100.000 Jahren gelesen, entziffert werden könnten. Es wird wohl auf einen Totenkopf hinauslaufen, Symbol eines uralten Todeskults. Kommen sie nicht näher, hier wird ihnen die Haut in Fetzen vom Körper fallen, hier kotzen sie sich die Seele aus dem Leib. Das ATOMZEITALTER war in meiner Kindheit. Oder, nein, das ist nicht richtig beschrieben, vielmehr WAR meine Kindheit das Atomzeitalter. Die Ära der Radioaktivität spannte sich als gesellschaftliches Ereigniss durch die 70er und 80er Jahre, füllte die Gazetten und Gehirne. Ich kann mich erinnern: Pershing II auf Tiefladern, die über die Autobahnen (Hitlers Autobahnen, wie man noch sagte. Autobahnen, die von Kraftwerk besungen wurden, eine Elekronik-Combo, die sich nach dem AKW benannt hatte) - die also über die Autobahnen fuhren, bedeckt mit olivgrünen Planen, Götzen eines seltsamen Fruchtbarkeits-Kults. Wir, die Kleinfamilie, die Kernfamilie, zockelten im Ford Escort an den endlos langen Kolonnen der Atomraketen vorbei, auf dem Weg in eine strahlende Zukunft.

Dann Tschernobyl - auch schon 35 Jahre her, Kinder, wie die Zeit vergeht - Gerüchte vom Sterben, Milch von deutschen Kühen nicht mehr trinkbar, Salat welkte in den Supermärkten, Pilze brachten den Tod und keine Träume mehr. Davor und danach marschierte ich auf Anti-AKW-Demos, ein Teenager mit Angst in den Knochen, mit Kobalt in den Knochen. Kobolde jede Nacht, die die Zähne fletschten unterm Bett. Es hat nichts gebracht. Oder, doch: es hat mich zu dem Freak gemacht, der ich schon war, von diesem Zeitpunkt an war ich unrettbar verloren für dieses System. System des Todes. Landschaften unter ABC-Nebel. ABC-Schüler war ich fortan nicht mehr.

Und die Jagdflieger in den Lüften, die Probealarme jeden letzten Freitag im Monat, die uns auf den Atomkrieg vorbereiteten. Der Musiklehrer - ein sanfter Nazi - spielte die Intervalle immer auf dem Klavier mit, die Sirenen, die uns in die Verderbnis riefen. Draußen vor den Fenstern zuckten die Hausfrauen zusammen. So lange sie ihre Plastiktüten von Aldi nicht fallen ließen und zu rennen begannen, so lange war alles gut. Noch.

Das Atomzeitalter, es wurde im Fernseher beendet, erst von Gorbatschow, dann von Schröder-Fischer-Merkel. Hat uns nur 24 Milliarden Euro gekostet, vorerst. Billige Sache. Angst habe ich nur noch selten. Unter den Hügeln der Pfalz schlummern immer noch die Mittelstreckenraketen.

Freitag, 23. April 2021

 
Schlecht ist, dass die allgemeine Empörung die Menschen zum Schweigen bringt, und zwar meist nicht die, die empört sind.
Da haben also ein paar mehr oder minder prominente Schauspieler und Schauspielerinnen ihren Unmut darüber kundgetan, dass so vieles geschlossen wird, marginalisiert, unnütz gemacht.
In meiner Facebook-Blase dann - die sich teils mit der Blase der Meinungsmacher der Printmedien schneidet - ein einziger Aufschrei: Wie kann man denn nur ... das wären ja fast schon Rechte ... die würden die Toten verspotten ...
Und gleich darauf zieht die erste - Heike Makatsch - ihren Beitrag zurück. Aus ihren Zeilen bei Twitter kann man die Panik fast heraushören. (Angstschweiß, Odorama-Kinntop). Jetzt nur keinen falschen Schritt, sonst ist die Karriere gecanceled. Der erste Rundfunkrat (was für ein Titel) mit Namen Garrelt Duin fordert bereits, die unverschämten Schauspieler und Schauspielerinnen von ihren Rollen im TV zu entbinden. Man könnte das auch Berufsverbot light nennen. Aber bislang ist es nur die Twitter-Forderung eines subalternen SPD-Politikers.

Diese aufschäumende Panik, die im Mantel der Wut daher kommt, im Wolfspelz - eine Meute, zwei Meuten, auf jeder Seite Meuten. Aber alle haben sie keinen Schneid. (Kleiner, preußischer Scherz, verzeihen Sie mir, ich schreibe gerade an einem Roman übers 19te Jahrhundert).
Soviele dabei, die seit Jahrzehnten den Planeten ruinieren, aber wenn irgendwer vorsichtig anfragt, ob er sein Leben zurückhaben könnte, eventuell, ganz vielleicht, wenn's nicht zuviele Umstände macht, irgendwann - dann, ja, dann reißen sie den Mund auf und geben unterthänigst zu bedenken, dass die Intensivstationen "volllaufen" würden. Schieben die Toten und Sterbenden vor wie ein Schutzschild. Alle Mann Augen geradeaus und Marsch, sonst sterben die Leute. Und wer nicht mitläuft, der killt meine Omi.

Nebenbei bemerkt: ein Land von mehr als 80 Millionen Bürgern, dass es nicht schafft, etwas mehr als 5000 Intensiv-Patienten angemessen zu behandeln und pflegen, das hat ganz andere Probleme, als nur die Pandemie. (Ich geb einen Tipp: das Problem nennt sich ungezügelter Kapitalismus - und der tötet Menschen schon seit Jahrzehnten nach Hekatomben).

Ich will nicht wissen, was in diesem Land los sein wird, wie diese Gesellschaft sich ins Schäumen bringen wird, wenn demnächst mal ein Virus vorbeischaut (Hallo, schön Sie zu sehen, Herr Nachbar), das eine Letalität von 10% hat, oder 30%. Das Vogelgrippe-Virus H7N9 wäre ein guter Kandidat. Dann können wir "The Stand" von Stephen King neu inszenieren und dann haben auch Ulrich Tukur und Jan Josef Liefers wieder eine angemessene Rolle.

Das derzeitige Virus ist ja nicht mal ne Grippe (tief durchatmen), wenn man es mit der Spanischen Grippe von 1918/19 vergleicht. Und trotzdem schon die ersten Stimmen in meinem Bekanntenkreis, dass es nie wieder Normalität geben dürfe, zumindest die Masken lebenslänglich getragen werden müssten. Und bis dahin: Zero Covid!
Freunde, ich sage es seit Monaten: das Wesen einer Pandemie ist, das man sie nicht aufhalten kann.

Aber die Impfungen, höre ich viele empört schreien, die werden uns retten. Vor der Mutante ... und der Mutante ... und der Mutante. Die Impungen werden uns retten mutatis mutandis.

(Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass die AfD verboten gehört).

Samstag, 24. April 2021

 
Der Tod lauert überall. Auf den Türklinken, in der Luft, im Atem fremder Menschen.
In letzter Zeit beschwert mich wieder der Gedanke, dass ich rapide älter werde. In fünf Tagen ereiche ich das 52. Lebensjahr. Wenn ich so alt wie meine Mutter werden sollte, bleiben mir noch dreizehn Jahre, wenn so alt wie mein Vater, noch sechzehn. Das ist nicht viel, das ist knapp bemessene Zeit.
Mein Vater ist mittlerweile fünfzehn Jahre Tod, meine Mutter vierzehn. Es sind also etwa so viele Jahre seither vergangen, wie mir noch bleiben würden, wenn ich so jung sterben würde, wie meine Eltern. Wobei: als mein Vater mit 67 Jahren starb dachte ich erst, das sei doch verteufelt früh, aber dann schaute ich in den Kohorten-Registern nach. Für einen Mann seines Jahrgangs war er genau durchschnittlich alt geworden: 67,5 Jahre.
Er war ganz einverstanden damit, in diesem Alter zu sterben, war sich sicher, sein Leben aureichend gelebt zu haben. Starb ohne sichtbare Angst an einem lauen Sommertag in einem Hospiz, bekleidet mit einem Krankenhaushemdchen, dass seine Rückseite durch einen Schlitz sehen ließ

Ich hingegen habe mir schon früh vorgenommen, 93 Jahre alt zu werden. Die Zahl kam zustande durch meine ausgeprägte Angstneurose, unter der ich früher litt. Alle wichtigen Dinge mussten mit der Zahl Drei (oder ihrem Vielfachen) zu tun haben. Das bedeutete, dreimal drei Mal auf's Holz klopfen, oder auf das Türblatt, nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte (also drei Mal abgeschlossen und wieder aufgeschlossen hatte, um sie dann wieder jeweils abzuschließen). Oder ich musste drei Mal auf den Boden spucken, um zu überleben, oder neun Mal um einen Poller herumgehen, um nicht sofort des Todes zu sein. Wobei: wenn die Drohung der himmlischen Mächte sich auf ein "Sofort" bezogen, dann war ja noch alles in Butter. Schlimm wurde es erst, wenn der Nichtvollzug einer magischen Handlung den Tod innerhalb der nächsten 24 Stunden versprach. Denn bei einem "Sofort" war ich nach einigen Sekunden erlöst, bei einem "Die folgenden 24 Stunden" musste ich zittern bis zum nächsten Abend. Der Tod lauerte überall. In jedem Kellerfenster, in jeder Ritze, in meinem Kopf, in meinem Herz.

Schon in der nächsten Sekunde könnte mein Herz aufhören zu schlagen oder mein Hirn explodieren (so wie bei meiner Mutter, die allein in ihrer Wohnung sitzend vom Schlag getroffen wurde - man fand sie zwei Wochen später, denn es roch merkwürdig im Treppenhaus). Über den Tod denke ich nach, seit ich 11 Jahre alt bin, folglich seit nunmehr 40 Jahren. Covid-19 kann mich wenig schockieren. Ich bin abgehärtet. Ich habe den Tod in unzähligen Nächten gesehen und geschmeckt, gerochen und gefühlt. Schon als Kind, als ich mit einem schweren Fieber über Wochen im Bett lag, gefangen in Fieberträumen, am Rand des verzerrten Abgrunds, der nicht dunkel war, sondern hell wie die Unendlichkeit. Es war im Frühjahr 1978, und die Russische Grippe hatte mich in den klammen Fingern, wollte mich nicht mehr hergeben. Ich kann mich gut an die Linsensuppe erinnern, die meine Mutter kochte, als ich auf dem Weg der Besserung war, dem lang gedehnten Fiebertraum entronnen. Es gab danach nie wieder etwas, das so gut geschmeckt hatte. Ich hätte mein Erbteil gegeben für dieses Linsengericht.

Draußen ein Frühling mit der Seele eines Winters. Menschen auf den Straßen, bald schon tot, historische Fotografien, die in hundert Jahren beim Trödler liegen werden, wenn auch die Enkel gestorben sind an irgendeiner unbeschreibbaren Seuche. Alle schon jetzt vergessen, so wie ich.

Meine Eltern sind noch nicht vergessen. Unlängst habe ich meine tote Mutter animiert (genauer gesagt ein Foto von ihr). Die KI hat ihrem fest gefrorenen Gesicht neues Leben eingehaucht.
Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte sie einfach besuchen gehen. Denn es war doch erst letzte Woche, als ich bei ihr zum Essen war ... oder nicht? Es gab Linsensuppe.

Sonntag, 25. April 2021

 
In letzter Zeit habe ich ja schweres Bauchgrimmen des Alterns wegen. Erwähnte ich das schon?
Mein Körper baut ab, die (wenigen, immer schon dürftigen) Muskeln werden in Fett tranformiert, was denn Effekt hat, dass ich zwar nicht in die Breite gehe, aber trotzdem immer schwabbeliger werde. 181 groß, 75 Kilogramm schwer und einen Körperfettanteil von 27 Prozent. (Du Lauch, oder besser gesagt, du Pudding). Also habe ich unlängst mit etwas Training angefangen, am Morgen, im violetten Bademantel. 3-Kilo-Hanteln und rumgezappel auf dem Boden.

Inspiriert hat mich dazu auch der Blog des muskulösesten Schriftstellers der Welt, André Spiegel, der nicht nur einen Bizeps hat, sondern auch Style, sowohl im Schreiben, als auch im Kleiden. Seinen großartigen Blog findet ihr hier:

Sport also. Es ist nicht zu fassen, was ich auf meine alten Tage noch alles veranstalte. Ich habe noch nie in meinem Leben Sport gemacht (von einem halben Jahr Judo im Alter von sieben Jahren abgesehen - ich hab nicht mal den gelben Gürtel bekommen), alle Muskeln, die ich habe, sind mir genetisch vererbt worden. Vielleicht hatte ich vor Äonen einen Hufschmied als Ahnen.
Vor fünf Tagen habe ich angefangen, unangeleitet und unkoordiniert. Diese niedlichen Hanteln waren ja noch zu meistern, aber als ich mich zum Liegestützen niederließ, brach ich nach fünf Stück fast zusammen und zehn Sit-ups schienen mir die Bauchmuskulatur zu zerreißen. Nach zehn Minuten Training war ich völlig fertig. Doch der menschliche Körper ist ein Wunderwerk, der mich immer wieder überrascht. Vor allem meiner.

Jetzt, nach nur fünf Tagen, halte ich schon eine halbe Stunde durch, bringe 20 Liegestütze und 30 Sit-ups fertig und fühle mich wie He-Man! Ganz ohne Flax, mein Körpergefühl hat sich nach so kurzer Zeit schon verändert. Und deswegen habe ich beschlossen, das weiterzuverfolgen. Und mich in einem Fitness-Studio anzumelden. Doch: Stopp! Corona! Verdammt!
Dabei gibt es bei mir um die Ecke ein sehr schönes Studio, das in einem Gebäude residiert, welches den Architektur-Kenner an einen SciFi-Streifen aus den 70er Jahren denken lässt. Man muss dort, im 5. Stockwerk des Forum Steglitz, einen großartigen Ausblick haben. Schön muss es dort sein. Das ist mir schon oft aufgefallen, wenn ich an dem Gym vorbeiging, auf dem Weg in die Steglitzer Bücherei (die Ingeborg-Drewitz-Bibliothek, die ich sehr empfehlen kann).

Noch nie war ich in einer Mucki-Bude, ich habe so etwas immer milde verachet, aber jetzt will ich dort hin. Ich will an die Gewichte, zum Yoga und zum Zumba (hört sich toll an, aber was - um Gottes Willen - ist das? Zumba?). Vor allem will ich an die Rudermaschine. Denn über die Anschaffung einer Rudermaschine denke ich schon lange nach (seit ich "House of Cards" geschaut habe). Doch gute Rudermaschinen sind teuer - würde ich mir eine kaufen (wofür ich nicht das Geld habe), hätte ich zwei Jahresbeiträge für das Fitness-Studio ausgegeben. Also möchte ich sozusagen die günstige Variante wählen.
Aber werde ich dort nicht einen Kulturschock bekommen? Oder werde ich in ein modernes, gesundes, optimiertes, muskulöses Leben hinein gezogen? Dürfen Dichter überhaupt in Mucki-Buden gehen? Und soll ich schon mal das Vorher-Foto aufnehmen?
Das Leben und die Fragen, die es einem stellt, sie werden nicht einfacher mit zunehmendem Alter.

Sonntag, 2. Mai 2021

 
Seit mehr als 50 Jahren suchen wir nach Leben draußen in den Sternen. Wir hören Radiofrequenzen ab, wir scannen den Himmel, wir entdecken neue Sterne, sogar Planeten in den letzten Jahren, Planeten, die teils dafür gemacht scheinen, Leben zu beherbergen.
Doch finden können wir nichts. Alles leer dort draußen, alles still. Ein schweigendes Universum. Dabei müsste es vor Leben - auch intelligentem - nur so wimmeln, wenn man die schiere Menge der Sonnensysteme betrachtet, die allein im sichtbaren Universum vorhanden ist (und es besteht die Möglichkeit, dass jenseits des sichtbaren Teils noch mehr existiert). Millionen von Milliarden von Sternen, besser noch, Millionen von Milliarden Galaxien. Unmessbar ... doch augenscheinlich leblos.

Die heutzutage übliche Erklärung für dieses kaum wahrscheinliche Phänomen ist die Annahme, dass das Universum zu alt sei (nach heutiger Vorstellung etwa 14 Milliarden Jahre), die Abstände zwischen potenziellen Zivilisationen zu groß, räumlich wie auch zeitlich. Deswegen sei es realistisch, dass zeitgleich mit uns keine andere Intelligenz in der Milchstraße existieren würde. Und über die Milchstraße hinaus wären die Entfernung zu gewaltig, als dass wir eine andere Zivilisation entdecken könnten.

Doch was ist mit Von-Neumann-Maschinen ? Wir, eine nur mäßig fortgeschrittene Gesellschaft, sind kurz davor diese Kolonisations-Maschinen zu entwickeln, technisch wäre es uns bereits möglich. Sollte es in den letzten zehn, zwölf Milliarden Jahren schon zahllose außerirdische Zivilisationen gegeben haben, müsste nur eine das Konzept der selbst-replizierenden Maschinen gehabt haben, dann hätten sich diese Armeen von Robotern in den vergangenen Äonen über das gesamte Universum ausgebreitet. Und selbst wenn diese, wie ein biologischer Organismus, irgendwann ausgestorben wären, zum Beispiel durch Ressourcenmangel in den Räumen zwischen den Sternsystemen, müssten wir Relikte auf allen Planeten finden.
Zudem wären es in Milliarden Jahren wohl nicht nur ein paar wenige außerirdische Lebensformen gewesen, die Von-Neumann-Maschinen entwickelt hätten. Wo also sind sie, die Maschinen und ihre Erbauer? Sie sind nicht vorhanden. Das Universum ist still, bis auf diesen einen kleinen, blauen Planeten in einem - so scheint es - unbedeutenden Sonnensystem am Rande des Orionarms unserer Galaxie. Sozusagen der Garten Eden des Kosmos.

Wir sind allein. Doch was folgt daraus? Wenn wir davon ausgehen, dass in einem derart maßlosen Weltall keine andere Intelligenz existiert bedeutet dies nicht nur, dass wir etwas unfassbar Außergewöhnliches sind, es impliziert, dass wir mit Absicht erschaffen wurden, dass die Erde eben doch auserwählt ist unter all den Steinkugeln, unter all den Gasbällen, die menschenleer durch die große Leere driften.

Denn wie sollte es eine Erklärung sein, dass in all dieser Maßlosigkeit, die wir Universum nennen, durch einen nicht wiederholten Zufall nur auf einem einzigen Planeten - unter Milliarden von Milliarden Planeten - intelligentes Leben entstanden ist? Da scheint mir ein Schöpfer die naheliegendere Erklärung zu sein.

Die Leere des Himmels ist der beste Gottesbeweis.
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© Florian Voss