Auszug aus dem Roman
Das Nachtlabyrinth
1. Das Arbeitshaus
Die Graupensuppe roch wie der Schlamm, der morgens durch die Gassen floss und es schwammen genauso undefinierbare Stücke darin herum. War das Fleisch, verklumptes Fett, Gemüsestrünke? Luise rührte lustlos in der zähen, grauen Masse und rümpfte die Nase. Im ganzen Saal klapperten die Löffel in den Blechnäpfen, der Rhythmus des Elends.
Die Mutter Oberin schrie gerade auf eine junge Frau ein, die sich mit Suppe bekleckert hatte. Eine junge Frau mit altem Gesicht. Luise blinzelte unter ihren strähnigen, schwarzen Haaren hervor und ließ ihren Blick über die anderen Frauen und Mädchen schweifen. Es waren mehr als hundert, die dicht gedrängt an drei roh gezimmerten Holztischen saßen und mit den Hintern auf den langen Bänken hin und her rutschten, um sich ein bisschen mehr Platz zu verschaffen. Die jüngsten waren kaum älter als sechzehn und so mager und geschwächt, dass sie zwar noch die Löffel halten, aber die Suppe nicht ohne zu kleckern zum Mund führen konnten. Die Mutter Oberin nahm das gern zum Anlass, um ihre Stimme durch den Saal dröhnen zu lassen. Es schien ihr Vergnügen zu bereiten, wenn die Frauen anfingen zu schluchzen und die Augen niederschlugen. Dann konnte die Oberin noch lauter keifen, bis alle Insassinnen voller Angst verstummten. Viele von ihnen zitterten nicht nur aus Angst, sondern auch der Kälte wegen, die sich zwischen den Wänden des Saales ausbreitete. Obwohl es schon Juni war, hatte in diesem Jahr der Frost seit dem Winter kaum nachgelassen. Als hätte ein böser Zauberer das Wetter verhext.
Luise schaute zu der jungen Frau hinüber, die den Zorn der Oberin auf sich gezogen hatte. Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt und hatte das Gesicht einer Greisin. Ihre Mundwinkel schnitten sich verbittert in die hohlen Wangen, die von scharfen Falten durchzogen wurden, und ihr Blick irrte auf der Tischplatte umher, blieb immer wieder an den Flammen der drei Kerzen hängen, die einen üblen Geruch von Talg verbreiteten. Ein großer Fleck Suppe färbte das Hemd der Frau und ihre Hand verkrampfte sich um den Zinnlöffel, den sie wie eine Waffe vor sich hielt.
Luise warf der Gescholtenen ein trauriges Lächeln zu, doch diese bemerkte sie nicht. Stattdessen aber die Mutter Oberin.
„Was gibt es da zu Grinsen, du nichtsnutzige, kleine Hexe! Ein falsches Wort von dir und du verbringst die Nacht im Loch!“
Luise strich sich die Strähnen aus der Stirn und fixierte die Oberin, sagte aber kein Wort. Es war keine Neuigkeit für sie, dass engstirnige Menschen sie aufgrund ihres Aussehens für eine Fremde hielten, der man nicht trauen durfte. Mit ihrem pechschwarzen Haar und den froschgrünen Augen wurde sie oft als Hexe bezeichnet, was natürlich lächerlich war. Abergläubisches Volk, dachte Luise bitter.
Als ihre Mutter noch gelebt hatte, war Luise immer beseelt gewesen, wenn sie ihr Haar kämmen durfte, das so schwarz wie eine Rabenfeder gewesen war. Ihr eigenes war damals noch heller und erst mit den Jahren genauso dunkel geworden.
Während sie die langen, dichten Haare kämmte, hatte ihre Mutter von ihrer Familie erzählt, und dass ihre Großmutter einst aus Ägypten gekommen sei, in einem bunten Wagen, vor den zwei Schimmel gespannt gewesen waren. Bis heute hatte Luise nicht herausfinden können, ob diese Geschichte ein Märchen war oder den Tatsachen entsprach.
Die Mutter Oberin fixierte sie mit ihren wässrig blauen Augen und kam langsam auf Luise zu, indem sie den Tisch umrundete und dabei Kopfnüsse an die Frauen verteilte, die mittlerweile alle die Köpfe gesenkt hielten. Es war still in dem dämmrigen Saal, zu hören war nur das Rauschen des Windes vor den geöffneten Fenstern, die sich hoch oben unter der Decke entlangzogen. Draußen ging gerade die Sonne unter und der Himmel flammte in tiefem Rot und goldenem Orange, als würde dort ein bedeutsames Schauspiel aufgeführt. Eine Amsel war kurz zu hören, verstummte aber gleich wieder, als würde die Angst wie eine Giftwolke zum Fenster hinaus wehen.
Die Oberin kam näher, ihre Lippen verhärteten sich und sie knetete ihre feisten Hände, als würde sie sie aufwärmen wollen, damit sie besser zuschlagen konnte.
Die Stille war allumfassend, nicht ein Windhauch mehr zu spüren, als plötzlich ein Löffel in einem Blechnapf klapperte. Zeitgleich schauten Luise und die Oberin in Richtung des Geräusches. Die Neue hatte ihren Löffel fest in die Hand genommen und klopfte nun entschieden damit auf den Rand ihrer Schüssel. Abrupt drehte sich die Mutter Oberin um und ging steifbeinig auf das widerspenstige Mädchen zu. Die war sicher schon über zwanzig, wirkte aber jünger, so mager war sie.
Luise zuckte zusammen, als die Neue mit ganzer Kraft den Löffel auf den Napf schlug, der dadurch vom Tisch geschleudert wurde und die Graupensuppe im halben Saal verteilte. Noch immer sprach niemand ein Wort, nur eine Frau mit rasiertem Kopf konnte ein Kichern nicht unterdrücken und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Luise wusste nicht, was sie tun sollte. Der Neuen beistehen? Aus dem Saal rennen und sich unter der Treppe verkriechen? Einfach nichts tun und hoffen, dass sich der herannahende Sturm genauso schnell wieder verziehen, wie er voraussichtlich kommen würde?
Und wieso half die Neue ihr überhaupt? War das Dummheit oder Übermut? Oder einfaches Unwissen darüber, in was für ein Haus sie geraten war, wer hier das Sagen hatte, wer den härtsten Schlag? Es gab Militärposten vor dem Tor. Die Oberin konnte sie jederzeit hereinrufen.
Luise entschied, vorsichtig zu sein. Frech Grinsen war das eine, aber eine offene Rebellion etwas ganz anderes. Das würde die Neue gleich zu spüren bekommen. Luise schaute wieder zu ihr hin. Die junge Frau hatte lange, verfilzte Haare, die vermutlich Blond wären, wenn man sie bei Gelegenheit waschen würde. Ihre dunklen Augen blitzten herausfordernd und ihre aufgeworfenen Lippen lächelten spöttisch. Sie war dünn bis auf die Knochen, wirkte aber zugleich sehnig wie eine Hinterhofkatze.
Die Mutter Oberin war jetzt fast bei ihr und öffnete den Mund, ließ das massige Kinn herunterklappen und gurgelte tief aus ihrer Kehle die ersten Schimpfworte hervor.
„Du Aas! Du hundsgemeines Aas! Du Krummmaul! Dich werd ich Mores lehren!“
„Das macht mir gar nichts aus“, sagte die Neue und ihr Grinsen wurde breiter. „Da bin ich anderes gewohnt.“
Die Oberin schaute sie entgeistert an, dann traten ihr die Augen vor Zorn fast aus den Höhlen. Sie holte mit der flachen Hand aus, als plötzlich die Tür zur Straße aufsprang, gegen die Wand knallte und der Kalfaktor Melchior hereinstürzte.
„Mutter Oberin“, rief er, „das müsst Ihr gesehen haben! Es ist unglaublich! Ganz einfach unglaublich. Schnee! Schnee im Juni! Im Jahr des Herrn 1816!“
Die Oberin verharrte in ihrer Bewegung und glotzte den Kalfaktor verständnislos an.
„Was sagst du? Willst du mir einen Bären aufbinden?“
„Nein, Mutter Oberin!“
Melchior schüttelte aufgeregt den Kopf. Die sonst trüben Augen in seinem verhärmten Gesicht leuchteten.
„Schnee! Schnee im Juni“, wiederholte er. „Kommt vor die Tür und schaut selbst. So etwas habt Ihr Euer Lebtag nicht gesehen!“
Unwillig senkte die Oberin ihre Hand, machte aber noch keine Anstalten dem Kalfaktor des Arbeitshauses nach draußen zu folgen.
Luise drehte den Kopf zum Fenster und starrte in den mittlerweile düsteren Himmel, aus dem einzelne, strahlend weiße Flocken fielen. Dann schaute sie wieder zu der Oberin, die die Neue fixierte, gefährlich langsam die Hand hob und ein fast wölfisches Knurren hervorstieß.
„Mutter Oberin…“, sagte Melchior und deutete zur Tür, als würde seine Vorsteherin nicht verstehen, um was es ihm ging.
Die Oberin nickte, als hätte sie einen Entschluss gefasst, und ballte die Faust.
„Wir sind noch nicht fertig, du liederliche, liederliche Person.“
Sie stutzte kurz und kniff die Augenlider zusammen. Luise konnte erkennen, dass irgendetwas in ihr arbeitete, dass eine Erkenntnis sich Bahn brach.
„Du bist doch… ich hab’ dich doch schon mal irgendwo gesehen… und nicht am Königshof.“
Die Neue zuckte mit den Schultern und schwieg.
„Ich komm noch drauf und dann Gnade dir Gott“, zischte die Oberin.
Mit einem Ruck wandte sie sich ab und folgte dem Kalfaktor auf die Gasse, die sich hinter dem Arbeitshaus am Festungsgraben entlang zog. Eine Weile herrschte tiefe Stille im Saal, die Flammen der Talgkerzen bebten im Luftzug, als die Tür geschlossen wurde. Die Frauen begannen sich langsam wieder zu regen, lösten sich aus ihrer Angststarre.
Luise zog ihren grauen Kittel straff und erhob sich, ein Flüstern rauschte durch die Reihen der Insassinnen. Sie ging vorsichtig zu der Neuen, streckte ihr scheu die Hand hin und sagte nur ein schlichtes Wort.
„Danke!“
Die Neue stand vom Tisch auf und schlug ein. Ihre Hand war kühl und rau. Aber Luise konnte kaum Schwielen spüren. Und die Neue roch gut. Veilchen und ein Hauch von Flieder.
„Wir müssen doch zusammenhalten“, sagte die Neue. „Wir können uns doch nicht einfach so rumschubsen lassen. Diese alte Vettel kann zur Hölle fahren!“
Eine Frau, die neben ihr saß, sog erschrocken die Luft ein. Dann bleckte sie ihre verfaulten Zähne, als würde sie das unaussprechliche Wort abwehren wollen, mit dem die Neue die Mutter Oberin gerade bezeichnet hatte.
Die Neue hob die Stimme.
„Alte Vettel, hab’ ich gesagt. Nichts anderes ist dieses böse Weib!“
Am Ende des Saals war ein verunsichertes Kichern zu hören. Die meisten aber steckten ihre Löffel zurück in die Schüsseln und schaufelten die Graupensuppe in sich hinein, wortlos und den Blick zur Tischplatte.
„Komm mit“, sagte die Neue, „ich will den Schnee auch sehen“
Dann schaute sie Luise durchdringend an.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Luise.“
„Ich bin Agnes“, sagte die Neue. „Wir müssen doch zusammenhalten! Sonst steht ja niemand für uns ein!“
Draußen war schon fast Nacht, der Himmel schillerte in einem tiefen Violett. Luise stand inmitten der tuschelnden Frauen, die dann doch ihre Angst vor der Oberin und den Militärposten überwunden hatten und vor die Tür geschlichen waren. Alle starrten zum Himmel, aus dem dicke Schneeflocken fielen, umher wirbelten, immer mehr wurden.
Es war eisig kalt, aber die Linden, die zwischen Straße und Festungsgraben wuchsen, waren eingekleidet in dichtes Blattwerk. Auf den Dachfirsten jenseits des Wasserlaufs lag schon ein Hauch von Schnee. Es war still, nur das entfernte Brüllen einer Kuh vom Ochsenmarkt schnitt durch die diesige Luft. Das Wasser des Festungsgrabens stank wie eine Kloake, aber das waren hier alle gewohnt. Luise stellte sich auf die Zehenspitzen und konnte erkennen, dass am Rand des Kanals ein dünner Eisfilm auf dem Wasser trieb.
Auf der Königsbrücke, die sich steinern und breit über den Festungsgraben spannte, lehnte der Gendarm des Viertels mit aufgeknöpftem Uniformrock am Geländer und stierte auf den dunklen Wasserspiegel. Er hatte wie immer zu viel getrunken und schwankte leicht hin und her, die Hand am Säbelknauf. Sein Zweispitz saß ihm schief auf dem dicken Schädel. Irgendetwas brummte er in sich hinein, aber Luise konnte nicht hören, was genau, weil er zu weit entfernt stand und der Wind seine Worte in Richtung Alexanderplatz verwehte, der sich hinter dem Arbeitshaus erstreckte.
An der gusseisernen Balustrade, die sich am Kanal entlang zog, standen der Kalfaktor und die Oberin, beide mit offenen Mündern. Andächtig schauten sie in den Himmel.
„Schnee“, flüsterte die Mutter Oberin. „Ist das zu fassen?“
Ihr Gesicht bekam einen fast weichen Ausdruck, doch dann verhärteten sich ihre Mundwinkel wieder. Mit ihren feisten Händen scheuchte sie die Frauen zurück und noch bevor sie anfangen konnte zu zetern, drehte Luise sich um und ging zur Pforte, an der mit missmutigen Gesichtern die Militärposten standen, die Kragen hochgeklappt, was nicht viel gegen die immer dichter herabfallenden Flocken half.
Das Arbeitshaus stand grau und düster vor ihr. Linker Hand erhob sich der schmale Turm der Kapelle in den nächtlichen Himmel. Dichte Schlieren von Ruß waren an seinen Mauern zu sehen, selbst in den Höhlungen der Kirchenfenster vermischte er sich mit den Schatten. Luise erschauderte. Konnte Gott in einem so finsteren Haus wohnen? Andererseits war es ja ein irdisches Feuer gewesen, das die Kapelle vor einigen Jahren teils hatte ausbrennen lassen. Nur dem Nachtwächter war es zu verdanken, dass das Gotteshaus nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.
Vielleicht war es derselbe Nachtwächter gewesen, der gerade auf dem Vorplatz stand, seine Leiter an die Querstreben einer Laterne anlehnte und hinaufkletterte, um den Ölbrenner zu entzünden. Er pfiff dabei ein Liedchen und glaubte, den ersten Nachtigallen Konkurrenz zu machen, die in den Bäumen am Festungsgraben saßen und gerade ihren Gesang anstimmten.
Nachdem sie ihre Blechnäpfe beiseite geräumt und die Tische gewischt hatten wurden die Frauen nach oben in den Schlafsaal geschickt. Fast alle zeigten müde Gesichter, denn sie hatten den ganzen Tag Papiertüten gefaltet oder Zigarrenkisten zusammengeleimt. Auch Luises Finger klebten noch von der stumpfsinnigen Arbeit und ein Splitter steckte in der Kuppe ihres rechten Daumens, den sie nicht herausbekommen hatte. Sie würde sich im Schlafsaal darum kümmern, wenn sie nicht zu müde war. Wie war sie hier bloß hineingeraten? Sie hatte ja nichts verbrochen! Nur ein, zwei Mal am Neuen Markt gebettelt, nachdem die letzten Groschen aufgebraucht waren. Aber das hatte schon gereicht. Die Gendarmen hatten sie ins Arbeitshaus verfrachtet, wie eine Diebin, oder wie eine – Gott bewahre – Straßendirne. Luise spähte unauffällig zu einigen Frauen, die ganz offensichtlich nicht wegen Bettelei hierher expediert worden waren. Sie schlurften durch den Gang und wisperten sich unanständige Witze zu.
Während sie die Treppe hochgingen hörte Luise den Kalfaktor, der mit langsamen Strichen den Steinboden des Speisesaals fegte. Auch die Oberin war noch nicht gegangen und redete leise auf ihn ein. Luise konnte Wortfetzen wie „Schnee“, „Das Ende der Tage“ und „Gott steh uns bei“ hören und sie musste lächeln über den Aberglauben der alten Vettel.
Unwillkürlich zuckte sie zusammen, hatte sie das gerade wirklich gedacht? Vettel? Sie musste achtgeben, dass sie nicht unter den schlechten Einfluss der Neuen geriet. Agnes! Wo war sie eigentlich? Luise schaute sich nach ihr um, während sie in den Gang zum Schlafsaal einbog. Agnes ging nur zwei Schritte hinter ihr und grinste sie an.
„Das war ein Spaß“, flüsterte sie.
„Wie meinst du das“, fragte Luise verblüfft.
„Hast du nicht das dumme Gesicht von der alten Schabracke gesehen, als ich ihr Widerworte gegeben habe?“
Luise verzog verärgert das Gesicht.
„Das hättest du nicht sagen dürfen, du weißt nicht, in was für eine Lage du dich gebracht hast. Die Mutter Oberin wird über so etwas nicht hinwegsehen und sie wird dir die Hölle heiß machen die nächste Zeit.“
Agnes machte eine wegwerfende Geste.
„Soll sie doch! Mir macht das keine Angst. Außerdem war ich schon mal hier, hat mich auch nicht umgebracht. Wenn’s wärmer wird verschwinde ich wieder und such’ mir eine Stellung. Vielleicht als Küchenmagd in irgendeiner Schenke. Meine Mutter hat mir nämlich das Kochen beigebracht!“
Sie zögerte kurz.
„Wenn auch sonst nicht sehr viel.“
Ein Schatten zog über ihr mageres Gesicht und ihre weichen Lippen verkrampften sich.
Im Schlafsaal war die Öllampe bereits gelöscht und die blauweiß gewürfelten Bettlaken waren nur schemenhaft im Dämmerlicht zu erkennen, das von draußen durch die vergitterten Fenster fiel.
Die Saalaufseherin tappte durch die Dunkelheit und scheuchte die Frauen in die Betten, während die mutigeren noch plappernd am vom Flur her erleuchteten Eingang verharrten, dann aber von der Aufseherin zur Ordnung gerufen wurden.
Luise kletterte in ihr Bett und rollte sich zusammen. Es war kalt im Saal und ihr lief eine Gänsehaut über den Nacken. Ihr gegenüber lagen die kleine Eugenie und die noch kleinere Sara in einem Bett, die einzige Decke bis über die Nasen gezogen. Beide waren kaum sechzehn und direkt vom Waisenhaus ins Arbeitshaus gewechselt. Es gab zu wenige Betten, so dass sich die meisten Neuzugänge eines teilen mussten. Nur ältere Insassinnen wie Luise hatten das Anrecht auf etwas ungestörte Nachtruhe. Das war der einzige Vorteil nach einem halben Jahr Arbeitshaus.
Luise zog einen Briefbogen unter ihrem Kopfkissen hervor und entfaltete ihn zum sicher hundertsten Mal, strich mit dem Daumen sanft über das aufgebrochene Siegel, zuckte zusammen, weil der Splitter schmerzte, und glättete dann den eng beschriebenen Bogen. Sie machte das alles so behutsam, als könnte das Papier unter ihrer Berührung zu Staub zerfallen. Dann las sie stockend. Im blassen Mondschein konnte sie die Schrift gerade noch entziffern.
Meine liebste Tochter,
ich schreibe dir diese Zeilen aus der dunklen Zelle, in die mich eine Verleumdung gebracht hat. Und eine Verleumdung muss es gewesen sein, denn ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, dessen sei gewiss. Auch fehlt bislang jede Anklage, man hat mich einfach eingekerkert.
Obgleich ich hier auf mich allein gestellt bin und nichts über die kommende Zeit und den Gerichtsprozess ahnen kann, gilt meine größte Sorge nur dir. Ich habe von einem Gendarmen erfahren, dass man dich in das Arbeitshaus am Alexanderplatz expediert hat. Eine Schande ist das, und es zerreißt mir das Herz, dass ich dir nicht als ein liebender Vater beistehen kann. Aber ich hoffe darauf, dass die Wahrheit ans Licht kommen wird, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das bewerkstelligen soll.
Dabei ahne ich nun endlich, was der Auslöser dieser Misere gewesen ist. Dieses verfluchte Buch! Hätte ich es doch nie an mich genommen. Und ich kann dich nur davor warnen, diesen merkwürdigen Almanach in die Hände zu nehmen, sollte er sich überhaupt noch in unserer Wohnung befinden und nicht von den Gendarmen sichergestellt worden sein, wenngleich ich es versteckt habe.
Ich hoffe, meine liebste Tochter, dass du nicht allzu viele Tränen vergießen musstest. So Gott will, werden wir bald wieder vereint sein, wenn der Gerichtsprozess mich entlastet haben wird. Bis dahin bin ich in Gedanken bei dir!
Ich werde später meine letzten Silbergroschen hergeben, um einen Wächter zu bestechen, damit er diesen Brief zum Postamt bringt. Und ich bete, dass dich diese Worte erreichen, und dass es dir gut geht. Mag sein, dass es gar nicht so schlimm ist in dem Arbeitshaus und du dort auf eine Stellung vorbereitet wirst, die dir das täglich Brot ermöglicht. Zumindest aber hast du dort ein Bett und etwas zu essen. Mehr, als ich dir in dieser schlimmen Zeit bieten kann. Zwei Jahre noch, dann bist du einundzwanzig und wirst so oder so auf eigenen Füßen stehen müssen. Doch bis zu diesem Tag hätte ich für dich da sein müssen und werde es vielleicht nicht können, wenn das Schicksal gegen mich entscheidet.
Verurteile mich nicht zu harsch. Gott ist mein Zeuge, dass ich schuldlos bin!
Dein dich liebender Vater
Behutsam legte sie den Brief wieder unter ihr Kissen und blickte zum Mond, der in der oberen Ecke des Fensters stand, mit gleichgültigem Gesicht und uralt. Er würde auch nicht helfen können. Aber wer konnte helfen?
2. Sankt Georg
Es war kalt und vor den Fenstern regnete es in Strömen. Dünnes Novemberlicht fiel auf die grün getünchten Wände, obwohl es der 3. Juni war.
Conrad rekelte sich auf dem karmesinroten Überwurf seines Bettes und ließ die Blicke schweifen. Sollte er wirklich bald nicht mehr in diesem Haus leben, in diesem Zimmer, das er sich ganz nach seinem Geschmack gestaltet hatte?
Es war ein altes Haus, mehr als dreihundert Jahre im Familienbesitz, aber seine eigene Kammer hatte er sich nach der neuesten Mode eingerichtet. Er schaute auf die Putten aus Stuck an der Decke, die Rosette aus verschlungenen Gipsblumen in der Mitte. Zu dem zierlichen Sekretär neben dem Fenster, auf dem sich seine Papiere und Bücher stapelten.
Die anderen Räume des gotischen Gebäudes hatten seine Vorväter eingerichtet, und sein Herr Vater hatte die Dekorationen mit eigenem, düsterem Geschmack komplettiert. Überall standen schwere Eichenmöbel herum, Truhen mit Eisenbeschlägen, riesige Anrichten. An allen Wänden hingen Ölgemälde der schmallippigen Ahnen.
In Conrads Zimmer war alles duftig und leicht. Die Vorhänge aus cremefarbenem Musselin, die Kränze aus Trockenblumen an den Wänden, die hingehauchten Bleistiftzeichnungen, die Franz für ihn angefertigt hatte und die lichte Wiesen und romantische Wälder zeigten. Selbst die Böden hatte Conrad mit türkischen Teppichen ausgelegt, damit die dunkel angelaufenen Holzdielen nicht den Eindruck von Leichtigkeit minderten.
Es war sein ganz und gar eigenes Reich. Und hier sollte er nicht mehr wohnen dürfen? Sollte im Spätsommer in die Provinz geschickt werden, um seinem Cousin auf dessen Landgut zu helfen?
Drei Monate hatte er noch in seiner Heimatstadt, im beschaulichen Lüneburg, wo es Wirtshäuser gab, Bäder und Parks, wo es die Ritter-Akademie gab, die er seit einigen Jahren besuchte – wenn auch unwillig. Und wo es Franz gab, seinen Herzensfreund, der ihm die Fron auf der Akademie versüßte. Das alles würde er verlassen und gegen ein beschwerliches Dasein in der brandenburgischen Einöde tauschen müssen.
Conrads Züge verdüsterten sich, und der Regen dort draußen half auch nicht weiter. Er erhob sich von seinem Bett, strich sein blauseidenes Nachthemd glatt und ging zum Fenster, öffnete die Flügel und schaute auf den Sand, den Hauptplatz der Stadt. Gerade schlug die Glocke von Sankt Johannis neun Uhr und der Glockenschlag hörte sich hohl an in dem rauschenden Regen. Die gotischen Giebelhäuser auf der anderen Seite des Platzes waren kaum zu sehen durch die dichten Regenfäden. Der kleine Brunnen in der Mitte lief über, ganze Bäche ergossen sich über seinen Rand. Eine einsame Kutsche wurde von einem triefnassen Schimmel über den Sand gezogen. Das Pferd hielt den Kopf gesenkt, als würde es Schläge mit der Peitsche erwarten, aber der Kutscher hatte sich fest in seinen Wachstuchmantel gewickelt und den breiten Hut in die Stirn gezogen.
Bald würde auch Conrad in so einer Kutsche sitzen und durch den kalten Regen fahren. Es war beschlossene Sache, der Herr Vater würde keine Gnade kennen und solange Conrad noch nicht großjährig war, konnte er es nicht verhindern. Und sein einundzwanzigster Geburtstag war noch mehr als ein halbes Jahr hin.
Und dann dieses Wetter! Da konnte man ja nur schwermütig werden. Andererseits… Conrad lächelte jetzt wieder. Auch ein eisiger Juni konnte eine Inspiration sein, alles konnte die Musen beflügeln. Außer vielleicht die Einöde der Mark Brandenburg.
Er trat an seinen Sekretär, schob die vielen Blätter mit begonnenen Gedichten beiseite und griff zur Feder. Er tunkte sie in das Tintenfass und stellte fest, dass die Spitze tropfte. Unbedingt beim Krämer in der Bäckerstraße neue kaufen, dachte er. Ein Dichter braucht gute Federn, sonst kann er nicht mit den Flügeln der Poesie davongleiten.
Aber ein paar Zeilen waren auch mit diesem unzureichenden Schreibgerät machbar. Er setzte sich, schob einen Band mit Gedichten von Barthold Heinrich Brockes beiseite, und begann.
Des Zephyrs Hauch durchstreift die grauen Lüfte,
Die Wolkenrösser nehmen schnellen Lauf.
Es ziehen leicht des Sommers weiche Düfte,
Des dunklen Himmels Bühne tut sich auf…
Was nun? Wie weiter? Conrad zögerte. Der Anfang schien ihm schon recht gelungen, aber es lagen viele erste Strophen auf seinem Sekretär, die er für gut gehalten hatte. Manchmal machten die Musen eine lange Rast, bevor es frisch weiter ans Werk ging.
Conrad tunkte die Feder ins Tintenfass und schrieb den nächsten Vers.
Und Musen aus der alten Götter Tage…
Vielleicht als nächstes einen Reim mit Sage? Aber worüber? Conrad legte niedergeschlagen die Feder beiseite und starrte in den Regen. Der Himmel hatte sich noch dichter bewölkt und mittlerweile war so wenig Licht in seiner Kammer, dass er ein Schwefelholz nahm und in das Phosphor-Fläschchen tunkte. Er zog es vorsichtig wieder raus, der Schwefelkopf flammte auf und Conrad konnte die Öllampe anzünden. Vorsichtig drehte er den Docht im Brenner runter, damit die Lampe nicht zu sehr rußte und die strahlend weißen Gipsputten an der Decke verschmutzte.
Gedankenverloren drehte er eine seiner blonden Locken um den Finger. Nur wenig mochte er an seinem Erscheinungsbild, aber sein Haar liebte er. Erst vor wenigen Wochen hatte er es mit Essig und Natron gebleicht und nach Art der Pariser Demi monde frisieren lassen. Oben kurz und stachelig wie bei einem Igel, im Nacken und an den Seiten lang und lockig. Er hatte in einer französischen Gazette gelesen, dass die Revolutionäre sich mit den Säbeln die adligen Zöpfe abgeschnitten hatten, so dass nur noch Strähnen übrigblieben. Aber war das wirklich noch die neueste Mode in Frankreich? Immerhin lag die Revolution schon mehr als zwanzig Jahre zurück. Conrads Gesicht verdüsterte sich und Zweifel überkamen ihn. Er schüttelte den Kopf, als würde er sich selbst schelten und tat den Gedanken ab.
Gerade wollte er wieder zur Feder greifen, als es an der Tür klopfte. Conrad ahnte schon, wer es sein würde.
„Nur herein“, rief er.
Die Tür öffnete sich langsam, fast zögernd, und der Hausdiener Kaspar trat ein, die Miene wie üblich sauertöpfisch verzogen. Ein Zitronenliebhaber, vermutete Conrad, auch wenn sich der Diener diese exotischen Früchte kaum würde leisten können. Conrad konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und winkte den Diener ins Zimmer.
„Was gibt es, Kaspar?“
„Der Herr Vater möchte Euch sprechen, junger Herr.“
Conrad zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe.
„Um diese Uhrzeit? Ist er denn nicht schon im Kontor?“
Kaspar schüttelte steif den Kopf.
„Nein, junger Herr, Euer Vater wartet in der Diele auf Euch. Er hat etwas mit Euch zu besprechen.“
„Ach? Ist das so? Ich kann mir gar nicht vorstellen, was er zu dieser frühen Morgenstunde von mir wollen könnte.“
Der Hausdiener verzog keine Miene.
„Das hat mir Euer Herr Vater nicht mitgeteilt.“
Unwirsch warf sich Conrad seinen Morgenrock über und schlüpfte in seine Pantoffeln aus blauem Samt. Sie waren nach Art des Orients gefertigt, mit gelbem Garn bestickt, und hatten überlange Spitzen. Ein Geschenk von Franz zu seinem letzten Namenstag.
„Also gut, richte ihm aus, dass ich in ein paar Minuten in der Diele bin. Auch wenn es mich beim Dichten stört.“
„Soll ich ihm Letzteres ebenfalls ausrichten“, fragte Kaspar mit einem dünnen Lächeln.
Conrad schaute wieder in den Regen. Eine Krähe kreiste um die Kirchturmspitze. Krähen im Juni! Wo sollte das noch hinführen?
„Nein, das dann doch nicht.“
Die Diele war ein dunkel getäfelter Saal mit hoher Decke und einem mächtigen Kamin neben der Freitreppe, auf deren oberem Absatz Conrad stand. Das morgendliche Licht fiel durch die hohen Fenster und sprenkelte den Boden in allen Farben von rot über gelb und grün zu blau. Das bleigefasste Glas zeigte Szenen aus dem Leben des Heiligen Georgs, hauptsächlich seinen Kampf mit dem Drachen. Conrad hatte diese kunstvollen Glasbilder immer geliebt und viele stille Nachmittage seiner Kindheit vor ihnen verbracht – beobachtet von seinen Ahnen, die in prunkvollen Goldrahmen an den Wänden der Diele hingen, hagere Kaufmänner mit kühlem Blick und teuren Pelzkrägen.
Draußen ratterte eine Kutsche vorbei und Conrad hörte ein Pferd schnauben. Die Hufe knallten auf das Kopfsteinpflaster. Über dem Kamin tickte laut die Pendeluhr, die schon immer dort getickt und geschlagen hatte. Es roch nach kalter Asche und ausgebranntem Bienenwachs.
Conrads Vater stand, mit dem Rücken zu ihm, am Fenster und zeichnete den Umriss des Drachens mit seinem dürren Finger nach. Er war bereits ausgehfertig gekleidet, den Dreispitz auf dem schütteren, staubgrauen Haar.
Wie konnte man nur so unmodisch sein, dachte Conrad. Ein Dreispitz! Das trugen doch nur noch ganz alte Leute, wenn überhaupt. Auch der schwarze Rock und die braunen Kniebundhosen, mit denen sein Vater bekleidet war, sprachen nicht gerade von Weltgewandtheit. Dabei wollte er das doch so dringend sein, weltgewandt wie ein Adeliger. Er hatte sogar versucht, sich einen Titel zu kaufen, hatte schon Visitenkarten drucken lassen: August Eduard Freiherr von Kemmernich! Aber das Ansinnen hatte sich zerschlagen. Seither hingen des Herrn Vaters Mundwinkel noch ein Stück tiefer als ehedem. Und zu allem Überfluss war ihm auch noch sein einziger Sohn missraten, dass jedenfalls ließ er Conrad jeden Tag spüren.
Doch wie sollte er seinen Vater zufriedenstellen? Der Alte war mehr als verbittert, seit er seine Frau verloren hatte. Conrads Mutter war bei seiner Geburt im Kindbett an einem schweren Fieber gestorben. Und sein Vater schien ihm das noch immer persönlich vorzuwerfen. Dabei vermisste Conrad seine Mutter ja auch, obwohl er sie nie hatte kennenlernen dürfen. Stattdessen musste er mit seinem kalten Herrn Vater vorliebnehmen.
Zögernd schritt Conrad die Freitreppe herab und setzte behutsam seine Füße auf den Teppich, der die Farbe von gerösteten Kaffeebohnen hatte. Sein Vater stand noch immer mit dem Rücken zu ihm und sagte kein Wort. Conrad räusperte sich.
„Herr Vater?“
Langsam drehte sich der honorable Kaufmann August Eduard Kemmernich um und schaute ihn aus seinen grauen Augen an. Die Augen, die er Conrad vererbt hatte. Und Conrad hasste sie, diese eingeborene Kälte. Er hätte lieber so warme, braune Augen wie Franz gehabt.
„Conrad, ich muss mich sehr wundern, dass du noch im Morgenrock bist. Solltest du nicht längst in der Akademie sein?“
Sein Vater zog die buschigen Brauen hoch, die in seinem hageren Gesicht wie angeleimt wirkten.
„Ach, Herr Vater, heute Morgen sind nur die Fechtstunden. Die kann man schon einmal ausfallen lassen.“
Sein Vater zog die Brauen zusammen, so dass sie wie eine lange, eisgraue Raupe wirkten, die sich auf seiner Stirn kräuselte.
„Ich kann es einfach nicht glauben“, sagte er zornig. „Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit man dir eine vorzügliche Bildung an der Ritter-Akademie angedeihen lässt. Und was machst du? Du wirfst mir all mein Wollen und Wirken vor die Füße! Schande! Eine einzige Schande ist es mit dir!“
Conrad zog die Schultern ein und senkte den Kopf.
„Ja, Herr Vater, da mögt Ihr wohl recht haben.“
„Und ob ich das habe. Aber nun bin ich deiner Faulheit überdrüssig! Denn nichts als Faulheit ist es, was dich umtreibt. Oder willst du dich wieder herausreden?“
Conrad schüttelte den Kopf. Er hielt es für besser, nichts zu sagen und die Strafpredigt einfach über sich ergehen zu lassen. Was wusste der Alte schon? Erklären, welche großen Gedanken und Erwartungen er selbst hegte, konnte Conrad ihm doch nicht.
Die Ritter-Akademie! Was war das denn, außer einer Paukschule, in der man Latein und Französisch büffelte, Algebra und Grammatik? Und dann noch das Reiten und Fechten. Wie sehr Conrad es hasste! Eintönige Beschäftigungen für den plumpen Landadel, dessen Söhne die Akademie bevölkerten. Nur ganz wenige Bürgerliche waren in den letzten Jahren zugelassen worden und es hatte seinen Vater so stolz gemacht, als auch er seinen einzigen Sohn auf der Akademie unterbringen konnte.
Drei Monate musste Conrad sich noch mit den blasierten Bengeln herumärgern, sich von ihnen den Degen aus der Hand schlagen lassen. Andererseits wurde dort auch Poesie von einem der Hofmeister gelehrt, und im letzten Winter hatte Conrad allerlei Tänze probiert, hatte sogar ein paar Schritte dieses neumodischen Walzers geübt, zusammen mit Franz. Ach, Franz, der so leichtfüßig über das Parkett schweben konnte und in dessen braunen Augen dann so ein unbeschreiblicher Glanz leuchtete.
Unsanft wurde er von der Stimme seines Vaters aus den Träumereien gerissen.
„Ich verlange, dass aus dir ein rechter Mann wird und an der Akademie scheint das ja nicht möglich zu sein. Jeder weitere Tag dort ist vertane Zeit. Deshalb habe ich beschlossen, dich noch heute zu deinem Cousin Jakob nach Tradow zu schicken. Eine Depesche, die dein Erscheinen ankündigt, ist schon letzte Woche abgegangen. Du fährst heute, pünktlich zur Mittagszeit. Kaspar hat schon alles vorbereitet. Also geh und pack deine Sachen. Augenblicklich!“
„Heute?“
Conrad sah seinen Vater entgeistert an. Der schaute kühl zurück.
„Aber, Herr Vater, Ihr könnt…“
Er schnitt ihm das Wort ab.
„Und ob ich kann! Solange du noch nicht großjährig bist, hast du mir zu gehorchen. Und ich werde das auch nicht weiter disputieren!“
Sein Vater presste die Lippen aufeinander und wandte sich wieder dem Heiligen Georg zu, angespannt klopfte er mit dem Fingernagel gegen die Spitze der Lanze.
„Zudem ist mir zugetragen worden, dass der Inspektor der Akademie sich entschlossen hatte, dich von der Lehrstätte zu relegieren. Nur der Fürsprache des Haupthofmeisters hast du es zu verdanken, dass du noch nicht in Schimpf und Schande davongejagt worden bist. Ich betone: Noch! Damit dir das endgültig klar wird. Ich komme deiner Schmach also nur zuvor.“
Conrad versuchte einen letzten Widerspruch.
„Aber was soll ich denn auf dem Gutshof von Cousin Jakob anfangen? Ich habe doch gar nichts beigebracht bekommen, was damit zusammenhängt.“
Der Vater beugte sich unwirsch zu ihm. Sein dürrer Finger fuchtelte vor Conrads Nase herum.
„Das liegt nicht mehr in deiner Hand! Jakob wird dir die Flausen schon aus dem Kopf treiben. Mit deinen zwanzig Jahren kannst du noch viel von ihm lernen. Und nun geh mir aus den Augen! Ich kann deinen Anblick nicht länger ertragen!“
Und mit diesen Worten wandte sich sein Vater brüsk ab, rückte seinen lächerlichen Dreispitz zurecht und verließ die Diele Richtung Gasse, um voller Tatendrang zu seinem Kontor zu eilen.
Conrad sackte in sich zusammen. Und zugleich waren seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Er brauchte sofort etwas Laudanum, um sich zu beruhigen. Mindestens eine dreiviertel Unze! Süße Träume bis zur Mittagszeit, das brauchte er. Unverzüglich!
3. Der Fuchs und die Gänse
Die lange Gerte zischte durch die Luft und klatschte auf das entblößte Gesäß. Eine Katze schrie in der Gasse hinter der Kirche, aber Agnes biss die Zähne zusammen. Luise bewunderte sie für ihren Stolz und ihre Stärke.
„Fünf“, rief die Mutter Oberin. „Seht gut hin! So ergeht es allen, die sich widersetzen!“
Sie bog die Gerte durch, um zu prüfen, ob sie nicht schon faserig wurde und ließ sie dann erneut durch die Luft schnellen.
„Sechs!“
Alle Frauen blickten betreten zu Boden. Sie standen im Kreis auf dem staubigen Hof, der sich seitlich des Arbeitshauses in Richtung Festungsgraben erstreckte. Die Oberin hatte die Frauen Aufstellung nehmen lassen, niemand durfte sich davonstehlen, alle sollten eine Lehre erhalten.
Auch ein paar Straßenkinder standen am Zaun des Hofs und schauten neugierig zu. Andere hatten schon wieder das Interesse verloren und spielten Der Fuchs und die Gänse nahe der Balustrade des Kanals. Gerade, als die Gerte ein siebtes Mal durch die Luft zischte stoben die Gänse auseinander und der Fuchs, ein kleines Mädchen mit bloßen, dreckigen Füßen, rannte ihnen nach.
„Luise, schau nach vorne!“
Die Oberin fuchtelte drohend mit der Gerte in ihre Richtung.
Unwillig wandte Luise den Kopf von den spielenden Kindern ab und blickte wieder zu Agnes, die über einem Holzbock kniete, den Kittel hoch und die Strümpfe heruntergezogen. Noch immer biss sie die Zähne zusammen, aber mittlerweile rannen ihr Tränen über die Wangen.
„Acht“, zischte die Oberin und die Gerte zog einen tiefen Striemen.
Dann legte sie eine Pause ein und wandte sich an den Kreis der Frauen. Agnes schluchzte leise.
„Nicht, dass wir uns hier missverstehen“, sagte die Oberin, „fünf Schläge sind für den Ungehorsam und die Widerworte. Weitere fünf für die unglaubliche Dreistigkeit dieser liederlichen Person.“
Sie hob ruckartig ihr Kinn, so dass die Fettwülste am Hals hin und her schwabbelten. Die grelle Morgensonne ließ das graue Haar der Oberin leuchten wie pures Silber.
„Diese liederliche, liederliche Person war schon einmal in unserem Haus! Ist hier aufgenommen worden, hat Verpflegung erhalten, hat sogar Zuneigung bekommen, ja, Zuneigung, sage ich!“
Sie stockte und man hätte meinen können, eine halbe Träne in ihrem Augenwinkel zu erkennen.
„Und wie hat sie es uns gedankt? Ausgerissen ist sie! Drei Jahre ist das schon her. Drei Jahre! Herumgetrieben hat sie sich, unter fahrendes Volk geraten ist sie. Ein freches Mundwerk hat sie entwickelt. Aber eines sage ich euch, nicht mit mir. Mit mir nicht!“
Und mit diesen Worten ließ sie die Gerte ein neuntes Mal auf die schon krebsrote Haut von Agnes klatschen. Luise zuckte zusammen und schloss die Augen.
„Und… zehn!“
Ein Wimmern war zu hören und im Hintergrund das Kreischen einer Gans, die vom Fuchs geschnappt worden war.
„Hab dich“, rief das kleine Mädchen.
[...]