Auszüge aus dem Langgedicht BRD 77

[TRAUM 1]

 

der geruch von kohlenbrand in der kalten luft

von salz und schwarzen holzbalken, ruß und schnee

und ozean liegt über der stadt, die im norden liegt

die in deutschland liegt, die in der kindheit liegt

schneewehen, meterhoch, und das blaulicht

der feuerwehr, die flammen im nebenhaus

und soldaten zwischen den schneewehen

und das eis der straßen, spiegelglatte bahnen

auf denen die alten frauen vorbeigleiten

hier muss niemand gerettet werden

nur im radio von nordmende spricht man

von schwarzen wolken und katastrophenalarm

winter 1978, die soldaten marschieren

mit schneeschaufeln durch die gassen

und die autos stehen wie in einer ölkrise zwischen

meterhohen schneefassaden, hinter denen häuser hocken

in den kanonenrohröfen schweröl oder eierkohlen

oder vergilbte liebesbriefe an das gestern

die baulücken in den häuserzeilen

ausgeschlagen von luftminen, von brandbomben

die lächelnden blindgänger in den verschütteten kellern

die baulücken in den zahnreihen, eingerissen

mit einem zwirnfaden, der an der türklinke hing

das lächeln des kindes, das ich bin, war

die milchzähne, weiß in der pillendose

und schnee auf den straßen, viel schnee, immer mehr           schnee

das lückenhafte lächeln, die lücke in diesem bild

auf den eisigen straßen zockeln die männer entlang

dunkle orden im herzen und wenig arme und beine

das wolfsgrinsen der soldaten in der fußgängerzone

verschweigt ihr böses herz, ihre frauen hängen

noch immer an ihren armen und lassen sich ausführen,         abführen

die wölfe haben cordhütchen, nicht wehrmachtskappen

auf den ausgekühlten schädeln, über trockenen augen

mit den stumpen zwischen den zähnen

die verbliebene hand kerzengerade in der hosentasche

[TERRORISTISCHES INTERMEZZO]

 

das RAF-plakat im postamt im herbst

hatte christian klar nicht eine sonnenbrille

wie ein filmstar | verbranntes zelluloid

war brigitte mohnhaupt nicht ein düsterer hippie

mit einer schmucken rasierklinge am hals

wie es sie auch vor der eisdiele gab

klein und versilbert – erster akkord des punk?

kinder in bundeswehrparkas auf den höfen

mietskasernenhöfe zwischen füsiliertem grün

spielzeugpanzer, blechpistolen mit knallplättchen

auf roten, gerrollten papierstreifen – ganz genau

will ich sein, ganz genau vor augen, zwischen die

augen – funkenblitz und lauer knall, verpufft

der geruch von schwefel, von schwarzpulver

und auch die nächte: pulvriges schwarz allüberall

kannst du sie riechen, die chemische nacht?

der schleier der fahndung, ungelöste variablen

über den dächern fernsehantennen, wälder aus stahl

rasierklingenscharf – und trotzdem verrauscht

das graustufenbild auf dem telefunken-gerät

hanni vanhaiden ein dämon mit verschobenen

augen und doppeltem mund, eine fratze

des kapitals, ein systemling, noch nicht auf

der abschussliste, kein abschluss gemacht

abschüssig in den sendeschuss hinein

das testbild im herzen, die zähne aus stahl

in der stube der topf auf dem tisch, die erbswurst

gelblich und die söhne drum herum hungrig

ab den hauptnachrichten wird zurückgeschossen

enthauptet in stammheim, entseelt in berlin

im palais schaumburg brennt noch licht

derweil es in der stube dunkel ist, die schatten

nisten im kalten ofen und kriechen bis zum morgen

an der raufasertapete entlang – die mutter häkelt

ein bildnis des manns ohne namen | der mann

steht vor der tür und klopft nicht, er lauert

im abgebeizten treppenhaus, eichenholzstiegen

bohnerwachs im auge, scheuerpulver im mund

er gurgelt seine geschichte hervor, er ist kaum zu hören

er kam gefahren mit der eisenbahn von linz aus

über nürnberg nach belsen nahe der heide

die erika blüht | sein auge ist blau

er strählt sich das haar, er kennt dich genau

[PARADIES | SOMMER]

 

von den sinneseindrücken zuerst

das hören mit geschlossenen augen

lidern, durch die sonne dringt

bienen und wespen vereinzelt

das plätschern kleiner wellen

das lachen und kreischen der kinder

ein hubschrauber vielleicht und durchsagen

des bademeisters, kaum verständlich

doch aus den tief innen gespeicherten

baderegeln einfach zu rekonstruieren

nicht vom beckenrand springen

nicht auf den nassen kacheln rennen

ein kleiner hund kläfft | der wind

streicht durch das gras | welches

ist der sound der sonne

die sich auf meinen rücken legt

wie ein warmes trockenes handtuch?

dann ganz langsam die augen öffnen

kinderbeine rennen vorbei, braun

und beperlt mit chlorwasser

die grashalme leuchten so grün

dass selbst ein farbenblinder junge

sie erkennen kann hinter dem zipfel

des badetuchs, so rot wie ein berry

die brötchentüte mit dem milchbrötchen

das es nur im freibad gibt und das

nach wind schmeckt und nach sand

die mutter sonnt sich, lässt das leben

in sich fließen | der bruder ist schon lange

zum freischwimmerbecken entschwunden

der vater ist in fernen ländern

ICH liege im sommer, mitten im

sommer liege ich und bald

wird das ein-meter-brett geöffnet, bald

stehe ich inmitten des tages

unverwundbar in meiner badehose

in den farben des star sprangled banner

 

als nächstes die düfte, die süße

der capri-sonne, die süße des klees

zwischen den frischen halmes des grases

chlor und sonnenöl | schweröl vom imaginären

hafen jenseits des planschbeckens

ein nebelhorn aus dem transistorradio

und die beach boys und boney m.

der geruch des eigenes halblangen haars

blond und nass und mit einem hauch

von schwartzkopf | eierlikör-shampoo

für helden des unendlichen freibads

frittenfett weht vom imbiss zum startblock

und immer wieder der duft des milchbrötchens

wenn man reinbeißt mit den milchzähnen

 

die augen weit auf: das überwältigende blau

des himmels mit winzigen wolkenfedern

in der höhe, zwischen denen düsenjäger

ihre eiskristallschweife ziehen | lautlos

der nachmittag jetzt, die kinder schwere schatten

das wasser in den becken flüssiger saphir

mit einem netz aus reflektionen, das in leichter

dünung zwischen sonnenstrahlen wogt

kacheln und gras und milchbrötchentüten

die in den hecken flattern | bald geht es

in den abend hinein, der sommer wird geschlossen

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© Florian Voss