Verbotene Zone 1

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Florian Voß - Verbotene Zone - Das eBook[...]
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Rund zehn Jahre - von 2012 bis 2021 - habe ich den Blog Verbotene Zone geschrieben, den Du an dieser Stelle finden kannst. Es sind interessante Texte dabei und weniger interessante. Nun veröffentliche ich hier Auszüge aus dem Projekt; ich hoffe, ich habe nur die interessanten Texte ausgewählt.

Florian Voß, Berlin im März 2025

Mittwoch, 29. Februar 2012

 

Die Denkerfalten auf der Stirn werden in den letzten Jahren nicht zahlreicher ... denkst halt nicht mehr nach, weißt schon alles.

 

Gestern stand ich vor den Ramschtischen Hugendubels. "Bitterstoffe" war nicht auf diesem Schandplatz zu finden, obwohl ich es erwartet habe. Vorletzte Woche hatte ich die Ankündigung meines früheren Verlags bekommen: Voß, sie werden verramscht.
Immerhin können dann jetzt mehr und mehr Leser meinen ersten Roman kaufen & lesen - werden sich den Titel grapschen. Die Frage ist nur noch: 2.99 oder 1.99?
Untergang des Romanischen Imperiums.
Aber was werden jene Exemplare ohne Remittenden-Stempel wert sein, in hundert, zweihundert Jahren?

Donnerstag, 1. März 2012

 

Gestern eine römische Münze bei ebay ersteigert. (Vermutlich) Constantius II - jahrzehntelang Kaiser des späten römischen Reichs, somit sind seine Bronzemünzen Massenware, werden einem heut noch nachgeworfen. Ein schönes Porträt zu sieben Euro. Rund 16oo Jahre alt. 50 Generationen. Kaum eine größere Party, würden sie alle in einem Saal stehen und saufen. Dennoch: 16oo Jahre. Äonen. Irreale Zeit. Schon in spätestens zwei Generationen werde ich Staub sein, und Seele, wenn das Universum verspricht, wonach es aussieht. (Die Sterne, Sternstraßen, die Galaxien und Galaxienhaufen, die Cluster von Galaxienhaufen - und ich unter einem anscheinend festen Himmelsdach, nahe einer Sonne auf dem Seitenarm-Ende einer abseitigen Galaxie).

Dann der Gedanke: vielleicht haben ja beide recht, die Theisten und die Atheisten... .. . Es wird gestorben, es verlischt, aber im letzten Moment, so zusammen geschrumpft wie ein (.) - dort gischtet das Leben an der Wand des Todes auf, verteilt sich ins Unendliche, wie eine überlichtschnelle Öllache auf dem schwarzen Asphalt des Sterbemoments, hinter dem nichts mehr kommt. Sozusagen der Tod als zeitverzögernde Droge.

Dann noch eine mir unbestimmbare griechische Münze mit einem Frauenporträt - schön so alte Dinge zu besitzen, so tote Frauen. Ich werde die beiden Münzen lose in der Hosentasche tragen, zwischen den Euro- und Centstücken. Vielleicht mische ich noch ein paar Mark drunter.

Von Mark gesprochen: seltsam wie viele Jahrhunderte das grundlegende Design des deutschen Geldes überdauert hat. Ein Scheidepfenning von 1742 sieht kaum anders aus als eine D-Mark.
Dann kam der Euro und eine völlig neue Ästethik. (Ich hätte ja vorgezogen, wenn das neue Geld TALER oder FRANKEN oder GULDEN gehießen hätte).

Freitag, 2. März 2012

 

Gerade las ich in der Morgenpost – die ich ab und an aus der Altstofftonne stehle – das ein deutscher Zahnarzt ins All fliegen wird. Im Jahr 2014 will das sich in Gründung befindende Raumfahrtunternehmen Space Expedition Curaçao den 39jährigen für knapp 70.000 Euro in den Weltenraum schießen.

O Gott, meine Kindheitsträume, sie werden alle wahr. Ich muss nur noch ein Buch richtig gut verkaufen, dann kann ich in die Leere, ausspannen bei Null Grad Kelvin. Ich erinnere mich, wie ich um 1980 auf dem – von meinem, nun auch schon seit sechs Jahren toten, Vater gezimmerten – Hochbett lag und SciFi-Romane aus der schwarzen Heyne-Taschenbuch-Reihe las. Der Mond war da zwar schon (vermutlich) erobert, Sternenstaub war zurück auf die Erde gebracht worden, aber das Spaceshuttle noch nicht abgestürzt, alle Hoffnungen nicht zu einem Feuer- und Trümmerregen geworden. Alles war strahlendes Sternenfahrer-Pathos, Science Fiction eben. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich irgendwann Passagier in einer Rakete sein könnte, Tourist im Kosmos, ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass ich das Jahr 2001 erleben würde, das Jahr von HAL 9000.
Und jetzt kostet das Ticket nicht einmal mehr den Gegenwert einer Doppelhaushälfte. Nur ein populäres Buch, Voß, nur eins, und du wirst in der Unendlichkeit schweben dürfen. Wirst auf den grünblauen Ball blicken, auf seinen Schimmelüberzug. Und dahinter das absolute Schwarz, ein Schwarz, wie du es nicht in deinen besten Gedichten beschreiben konntest. Und diese Vorstellung, ein Gedicht schreiben zu können über dieses Schwarz, das erste Weltraum-Gedicht der Menschheit, das aus einem realen Erfahrungsschatz schöpft, das wäre ein Triumph. (Hört sich das Größenwahnsinnig an? Egal.)
Und in deiner Kindergartentasche – die aus gelb lackiertem Leder – wirst du ein Pausenbrot haben und ein Netbook, das nur 99 Euro gekostet hat, das aber mehr Rechenleistung als der Bordcomputer der ersten Apollomission hat.
 
Vor einigen Wochen sah ich das Sequel des Kubrick-Films: „2011 – Das Jahr in dem wir Kontakt aufnehmen“. Und auch das haben wir schon hinter uns, das Jahr 2011, wenn auch nicht den Kontakt, kein mattschwarzer Monolith am Himmel, soweit ich weiß auch nicht in der Umlaufbahn von Jupiter. Keine Außerirdischen, nirgends, nie. Kein Signal. Schade.
Ich hätte so brennende Fragen zu stellen: Habt ihr Religionen, vielleicht gar nur eine einzige? Habt ihr einen Freien Willen, und wie ist es euch gelungen, den zu beweisen? Welche Musik hört ihr, und wenn ja welche, und hört sie sich an wie von Johann Sebastian Bach? Oder eher wie von Thomas Tallis?
 
Science Fiction all überall im All, und gleichwohl auf der Erden. Weltraumfahrten und Internet (und YouPorn). Und alle diese Zukunftsbewohner (die wir sind) leben noch immer in brüchigen Altbauwohnungen, haben keine oder schlecht bezahlte Jobs, tragen noch immer Kleidung, die aussieht wie aus dem Jahre 1984, kaufen noch immer bei Aldi, Penny und Lidl ein. Nur Netto ist neu.
 
(Und 1984 hieß Erika Mustermann noch „Renate“, geboren am 5. August 1958 in Bonn.)
Neben dem Raumfahrer-Artikel im Vermischten war die Schweinebauch-Anzeige eines Supermarkts abgedruckt: Ein Kilo Kiwis – 88 Cent.
Ich erinnere mich, am Ende meiner Kindheit aß ich meine erste Kiwi, (das erste Spaceshuttle mit Namen „Explorer“ war gerade gestartet), eine exotische Delikatesse. Meine Mutter (auch schon fünf Jahre tot) hatte zwei Stück, ich glaube, bei Penny gekauft, eine für meinen Bruder, eine für mich. Und jede einzelne hatte eine Mark gekostet. Sie schmeckte mir nicht besonders, aber ich kann mich noch gut an die Exklusivität dieser Frucht erinnern.
Berry, Milka Krokant, Milka Mandelsplitter, Rolo, Raider, Treets – wo seit ihr geblieben, seid ich in die Zukunft verschwand?
 
Ich habe einmal gelesen – vielleicht sogar in der phantastischen, aber deswegen schnell wieder eingestellten Zeitschrift OMNI – das die Astronauten, die Kosmonauten (und jetzt wohl auch die Taikonauten) davon berichteten, dass die seelenerschütternste Erfahrung die man machen kann, ein Aufenthalt im All ist, das Schweben außerhalb des Mutterleibs der Raumkapsel, das Schweben im Nichts; ein Mensch, der man selbst ist, umgeben von dieser Schwärze, von der wortbezwingenden Weite, die von allen n-zähligen Himmelsrichtungen auf einen einstürzt.
 
Und unter dir, nein, über dir, und neben dir, diese blau leuchtende Frucht im Sonnensystem, 88 Cent beim Hyperraum-Markt gleich um die Ecke. Das Band der Milchstraße eine glitzernde Auslage vor dem Tante-Emma-Laden Gottes.
 
70.000 Euro, Leute – klickt den Link rechts neben diesem Text an und kauft mein neues Buch, es müssen nur noch rund 69.000 Exemplare verkauft werden, dann kann ich mir das Ticket leisten. Das wird doch nicht so schwierig sein... .. .
 
(Und dazu „Cleopatra dreams on“ von Jeffrey Lee Pierce – auch schon lange tot. Und ich bin immer erkältet.)
(Mein Sohn wird dann sicher zu den Sternen reisen – Tristan, Ritter der Oortschen Wolke.)
 
Von der Morgenpost gesprochen, vom Hauptstadt-Feuilleton gesprochen: unglaublich, in welch altbackenem Stil dort geschrieben wird. Fortwährend mit so ´nem Augenzwinkern (zwinker, zwinker), dass sich dem Leser bräsig an den Hals und die aus Salzteig gebackenen Gehirnwindungen wirft: Mein lieber, guter Leser, du verzeihst mir doch, dass ich keinen blassen Schimmer von der Materie habe, weil: wir verstehen uns auch so, in unserer minderbemittelten Rührseeligkeit.
Da hat die Rezensentin Gabriela Walde eine Künstlerin wiederentdeckt: Dodo, eine Zeichnerin der 20er und 30er Jahren, neusachlich, wie Frau Walde meint, dann nach England emigriert, wo sie unter anderem Postkarten entwarf. Aber wäre sie in der Hauptstadt der goldenen Zwanziger geblieben, hätte ihr die Regenbogen-Brücke zum künstlerischen Zenit offen gestanden, meint Frau Walde.
Auf der illustrierenden Abbildung sehe ich eine Frau und einen Mann, in abwehrender Umarmung. Dieses gezeichnet, wie für eine nette Zeitschrift der modernen Frau (aber mit großer Mühe, die Felsspalten der Liebe zu ergründen), ein zeichnerischer Abglanz von mondänem Stilwillen, ein Abklatsch Jeanne Mammens (die ja auch nur ein Abklatsch Hubbuchs und Schlichters war – oder tue ich ihr Unrecht?) – und das wird zur Zeit in der Kunstbibliothek am Kulturforum ausgestellt. – Woher kommt dieser Wille zum Mittelmaß in dieser Hauptstadt. Es gäbe so viel Gutes wieder zu entdecken. Stattdessen: leicht depressive Modezeichnerinnen.
 
(Ich werde mir die Ausstellung anschauen, und sollte ich Unrecht haben, werde ich Abbitte leisten.)

Sonntag, 4. März 2012

 
(In der zweiten Stunde des Tages). Leider stößt man nicht zum Kern des Seins vor, wenn man betrunken ist. Und ich spreche nicht von: ein bisschen betrunken (dafür war allein schon E. verantwortlich, der mir gegenüber sitzend den ganzen Abend in einem Tempo Bierflaschen in sich hinein leerte, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als auch besoffen zu werden) . Aber für eines ist das Betrunken sein gut – alle Schichten von eingebildeten WILLEN fallen von einem ab, übrig bleibt nur noch ein Wesen, das zwar kaum noch tippen kann, das aber um so mehr ICH ist. (Nimm das, du Gehirnforscher). Es ist nur noch ein letzter Stummel von ICH da, aber dieser Stummel denkt für sich selbst.
Merkwürdig die Ansicht der zeitgenössischern Gehirnforscher, denn nichts als zeitgenössisch sind sie nur, merkwürdig kommen sie mir vor, in jeder Gehirnwindung, in der mein freier Wille hinterlegt ist. Sie stellen die falschen Fragen, diese Willensforscher, sie scheren sich nur um die letzten zehntausendsteln Sekunden zwischen Vorstellung und Handlung, und sie sagen dann („Sagen die Gelehreten“), dass ihre Messungen ergeben hätten, dass der neuronale Impuls der Handbewegung vor der willentlichen Entscheidung zur Handbewegung lag.
Schön, schön, das Gehirn-Gehirn hat entschieden, bevor das Gehirn-Ich davon wusste. (Aber welcher Gott, welcher Transmissionsriemen Gottes, oder welcher Transmissionsriemen ausserhalb der Geistesmaschine war es, der das Rad des Willens oder des Impulses bewegte?).
 
Kann ich nicht nur über die Willensfreiheit schreiben, indem ich meine Finger über die Tastatur huschen lasse, oder ist vielmehr mein ICH getrieben von den Ganglien, von den Botenstoffen in den Synapsen?
Gesetzt sei: Ich habe eine Zwangsneurose (nehmen wir das einfach einmal an), und diese Zwangsneurose zwingt mich zum Handeln. Ein klassisches Beispiel für einen unfreien Willen. – Wenn ich aber mich über das eigene MÜSSEN hinwegsetze, und zu einem WOLLEN komme (und das ist sehr gut möglich, wenn auch KRAFT dazu gehört), wenn ich also mit einem Teil von mir sage: Gott, ich müsste jetzt die Herdplatte überprüfen. – Aber wenn das, was ich ICH nennen würde entscheidet, ich verlasse die Wohnung, ohne in die Küche gegangen zu sein – wer spricht in mir dann? Könnte es jener Teil sein, der mit großer Mühe gegen diesen Zwang ankämpft, der also mit dieser Mühe, diesem Teil des ICHS, das altbekannte, das aus den tiefen des Unter- oder Überichs austräufelnde Ding, dass dieser Teil des Ichs erfolgreich ankämpft gegen etwas, was man Willenslosigkeit nennt... .. ?
 
Gehirnforscher: ihr müsst nachdenken, nicht nur Experimente machen, die von euren Gehirnen beeinflust werden (denn was seit ihr schon, außer ein menschgewordener Quanten-Zeno-Effekt...)
Gehirnforscher, wie könnt ihr über den Willen nachdenken, über das ich? Wie könnt ihr nur? Euer Gehirn ist viel zu klein, um ein Gehirn zu verstehen.
Sphärenklang: unbekannt.
Und von Gott gesprochen: vielleicht haben zum Beispiel die Epileptiker ein Tor in ihrem Bewußtsein, durch das Gott in den Menschen greift, um ihm ein Gefühl von ICH zu geben, vielleicht buchstabiert ein Zwangsneurotiker seine Persönlichkeit mit seinen Fingerkuppen auf die kalte Herdplatte, freien Willens, mit dem besten Blick auf die Wirklichkeit, die immer weiter fortschreitet, auch wenn die Uhr, ja, die Uhr, tickt.
 
Mein Sohn spielte am späten Vormittag mit Lego und dachte darüber nicht nach, war nur ein Junge, der mit Lego spielt, im Sonnenschein, der jetzt im anbrechenden Frühling schon früh in sein Zimmer fällt, ist ein Kind, das nicht nachdenkt, nur ICH ist, mit den Augen in die Welt schaut, wie er schon früh geschaut hat, der jetzt drei Jahre alt ist, der niemals weiter denkt, als bis zur nächsten Kinderüberraschung. Der aber doch nicht zum Supermarkt mitkommen will, der seine Kinderüberraschung gebracht haben will, der verharren will in der Unendlichkeit, in der Zeitlosigkeit seines ICHS. Im Sonnenschein des anbrechenden Frühlings.
 
ICH schreibe meinen Willen auf dieses Papier. Ich „Ich“. Will ich sein. Denke.

Montag, 5. März 2012

 
Händel. Die Suiten von 1733, gespielt von Edgar Krapp auf dem Nachbau eines Kirckman-Cembalos von 1787. Draußen Sonnenschein und der Geruch von Frühling, und hier drinnen diese Musik. Händels Clavierwerk ist mir in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen, und ins Ohr hinein, ein Werk, das es ohne weiteres mit Bach aufnehmen kann, wenn es auch nicht so streng strukturiert, so eingängig und tiefgründig ist, wie das von Bach. Aber diese Mischung aus südlicher Weltzugewandtheit und nordischer Kühle: einmalig. Kaum zu glauben, dass es noch immer kaum Gesamtaufnahmen von diesen Suiten und Stücken gibt, die Krapp-Aufnahmen sind auch nach der Erstveröffentlichung zwischen 1978 und 1980 nie wieder als CD aufgelegt worden, dabei gehören sie zu den schönsten Interpretationen von Cembalomusik, die ich kenne.
Und draußen Sonnenschein, ein klares Gleißen, das sich im Gestrüpp der Lindenzweige verfängt. Kaum Menschen auf den Bürgersteigen. So könnte es am Vortag eines großen Krieges aussehen. Merkwürdig, wie das Bewußtsein für die Atombomben geschwunden ist im alten Europa. Es sind natürlich nicht mehr ganz so viele Pershing- und SS-20-Marschflugkörper in den Silos gelagert (oder ihre Nachfolger), aber immer noch genügend, um uns alle zu Staub zu machen, der über der flach geschlagenen Erde wehen würde.
Eine anderes Zeitalter: die 80er Jahre, vor dem großen Fall der Reiche, als ich jeden Abend mit der Vorstellung ins Bett ging, am nächsten Morgen nicht mehr zu erwachen, oder – noch schlimmer – aus dem Schlaf gerissen zu werden vom ABC-Alarm. Der niemals kam, den man aber doch immer, jeden Moment, als Geistermusik über der Stadt schweben hörte. Der einmal im Monat, am letzten Freitag um zwölf Uhr mittags, als Probealarm mir das Blut in den Adern stocken, den Schweiß in den Achselhöhlen perlen ließ.
Schon mit zwölf, dreizehn Jahren war mir klar geworden, dass die (West)-Mächte dieses heulende Schau- , nein, Hörspiel veranstalteten, um die zitternden Bürger und Bürgerssöhne in Angst und Schrecken zu halten, denn man hätte die Sirenen sicherlich auch ohne Ton auf ihre technische Unversehrtheit testen können. Stattdessen: das Heulen der Hölle. Und ich suchte am Himmel nach den schlanken, todesbringenden Minutemen-Raketen.
Und stellte mir die Apokalypse doch nur so pitoresk vor, wie ich sie in dem Film „Die Zeitmaschine“ gesehen hatte.
Nach 1989 wurde der regelmäßige Probealarm dann schnell wieder eingestellt – der Feind war ja besiegt. Der Feind trug ja Stone-washed-Jeans und wollte Obst und Westgeld.
 
Heute schlafe ich ruhiger, kann nur müde lächeln über die angebliche terroristische Bedrohung. Mein Gott, ja, manche U-Bahn-Fahrt wird zum Lottospiel, könnte vielleicht im ungünstigsten Falle zum Lottospiel werden, aber diese absolute Bedrohung des „Atomaren Holocausts“ (wie man das damals nannte – würde heute auch nicht mehr PC sein), die hat sich doch aus dem Bewusstsein verflüchtigt.
Aber letztlich gibt es eben noch genug von diesen Weltvernichtungswaffen. Sie schlafen nur, sie haben schlechte Träume. In den Bergen schlafen sie, wie die Siebenschläfer. Haben dort immer geschlafen, selbst zu der Zeit des Nato-Mannövers „Abble Archer“, 1983, als wir knapp vor dem atomaren Overkill standen, und das alle auch bemerkten, fühlten.
Ich behaupte: in diesem Jahr 1983, als in den Charts „I like Chopin“ von Gazebo gelistet wurde, gab es eine Abzweigung im System der Paralleluniversen, und dieser, nein, nicht Pfad, diese sechsspurige Autobahn führte in eine Welt aus Asche, mit einem ascheverhangenen Himmel, mit einer aschegesättigten, alles überspannenden Ebene.
Nochmal knapp davon gekommen. Auch eine Art von Gottesbeweis. Dass das nicht zugelassen wurde.
 
Hier Händel, Suite Nr. 2 G-Dur. Auch das wäre vernichtet worden. Nur die Sonne dort draußen nicht (wenn auch auf Jahre verdunkelt). Ich frage mich, ist Händels Musik eigentlich in der Raumsonde Voyager 1 mitgenommen worden, die die größten Kulturgüter der Menschheit mit an Bord hatte, auf einer goldenen Datenplatte, als sie unbemannt im Jahre 1977 startete, zur Zeit der Sex Pistols... ? (Ich habe bei Wikipedia nachgeschaut: Bach, Mozart, Beethoven. Aber weder Händel, noch Schubert, noch Schumann. Schade.)
Draußen zwitschern die Amseln, und die Spatzen, und die Blaumeisen. Keine Poseidon-Flugkörper am unschuldig blauen Himmel.

Mittwoch, 7. März 2012

 
Zum zweiten Frühstück eine Noodle-Mix-Suppe von MAMA. Mit extra Sambal Oelek, Soya-Sauce und Pindakaas. Frau im Urlaub, schon fangen die schlechten Essgewohnheiten wieder an. - Heute Nachmittag gehe ich mit Tristan zusammen in den Kaufland-Hypermarkt. In die Süßigkeiten-Abteilung.
 
Kind schläft jetzt. Süßigkeiten sind gegessen. Vor mir ein paar römische Münzen. Wertlos. Ich erinnere, wie meine Eltern, vor allem mein Vater, früher von ihren Schätzen schwärmten. Ein Roh-Opal, der 1000 Mark wert sein sollte, so erzählte mein Vater es mir, als ich etwa sechs oder sieben Jahre alt war. Ein Anzahl von Silbermünzen, aus Holland, Deutschland und der Schweiz, die einen ganz hellen Klang hatten, wenn man sie auf den Tisch warf. Silber! Schätze! Echte Wajang-Puppen an den Wänden, verziert mit Blattgold. Blattgold!
Ich war ein Prinz, ich würde reich sein.
In Zeiten von ebay kann ich nun endlich überprüfen, was mein Erbe wert ist. Das Silber, das Blattgold, der Opal. Alles Silber: 50 Euro. Alle Wajang-Puppen mit Blattgold: 80 Euro. Daumengliedgroßer Roh-Opal: 5 Euro.
 
Ich bin reich.

Mittwoch, 14. März 2012

 
Wie hat meine Mutter das nur geschafft? Allein mit zwei Kindern, zumindest die meiste Zeit allein, weil ihr Mann, unser Vater auf Tournee war, oder an einer weit entfernten Landesbühne. Nur alle zwei, drei Wochen kam er nach Hause, in die enge Wohnung, in der Engen Straße in Lüneburg. Ich war dann immer so aufgeregt, dass mir die Halsschlagader pochte. Ganz beunruhigt war ich von dem Pochen, so dass ich meine Mutter fragte, ob das ein böses Zeichen wäre, ein Hinweis auf eine schwere Krankheit, eine fiebergeschwängerte Influenza; und meine Mutter sagte: Nein, mein Junge, du freust dich nur, dass Papa bald da sein wird.
Also, wie hat meine Mutter das geschafft, die ganzen sechziger und siebziger Jahre hindurch, allein mit zwei Söhnen, der eine davon nicht gerade pflegeleicht?
 
Die anstrengenste Woche seit Jahren liegt hinter mir (deshalb ich auch nur an einem einzigen Tag dazu kam, diesen Blog weiterzuschreiben) – eine Woche allein mit meinem Sohn, sieben Tage Vater und Sohn. Ich liebe mein Kind sehr, aber jeden Tag drei Stunden LEGO und vier Stunden PLAYMOBIL spielen, Kind baden, anziehen, verköstigen (vorher Essen kochen, nachher Abwasch abwaschen), Spielplatz, Park, einkaufen gehen, vorlesen, malen, basteln.
Und damit wir uns nicht missverstehen, sonst beschäftige ich mich auch die Hälfte der Zeit mit meinem Kind, aber eben nur die Hälfte, für den Rest ist die Frau Mama zuständig (meistens etwas mehr als die Hälfte, wenn ich ehrlich bin). Die letzten Tage durfte ich nicht mal alleine auf den Balkon gehen, um eine zu rauchen, auch da wollte das Kind nicht selbsttätig spielen in seinem Zimmer, oder im Wohnzimmer, oder wo auch immer.
Ich habe schließlich alle meine guten Vorsätze sausen lassen und wollte ihn vor der Glotze parken, aber, O Schreck, wir haben ja gar keinen Fernseher. Also noch ein Buch vorlesen, und vierzehn PIXIS.
 
Wie hat meine Mutter das nur geschafft. Ich weiß es ja selber (selber, selber, lachen alle Kälber): FLORIAN, GEH RAUS, SPIELEN. Die Sonne scheint so schön. NEIN, FLORIAN, Mama will jetzt den STERN lesen. FLORIAN, WÜRDEST du bitte nicht hier spielen, geh doch in dein Zimmer. Ich ruf dich dann zum Essen. FLORIAN, NEIN!
 
Ach, herrliche Kaltschnäuzigkeit der Erziehung im Nachkriegszeitalter. Und geraucht hat meine Mutter natürlich in der Küche und im Kinderzimmer und niemals, niemals auf dem Balkon (wir hatten gar keinen).
Und wenn es zu viel wurde, hat sie geschrieen oder Depressionen bekommen. Oder noch ein halbes Päckchen ERNTE 23 im Wohnzimmer geraucht, oder mich vor der Glotze geparkt (Rappelkiste, manchmal  Das feuerrote Spielmobil - immerhin, halbwegs antiautoritäres Zeugs).
 
So hat meine Mutter das geschafft. Und was ist draus geworden: nichts Gutes, nichts Gutes.
Und deshalb bekomme ich am sechsten Tage lieber einen Nervenzusammenbruch und spiel danach noch eine Runde LEGO mit meinem Kinde.
 
Die LEGO-Dämonen wackeln schon durch meine Träume.

Dienstag, 20. März 2012

 
Mein Sohn postulierte heute, als ich mit ihm zusammen an seinem Tisch Ostereier mit Filzstiften zeichnete, und wir uns dabei angeregt unterhielten, dass er sich gerne langweilen würde, denn beim Langweilen könne man so gut nachdenken.
Es fasziniert mich, wie ein Dreijähriger schon solche Reflektionsgabe, solche, ja, Nachdenklichkeit entwickeln kann.
Zur Zeit denkt er darüber nach, ob er Vegetarier werden soll, so wie seine Mutter, aber bislang hindern die Schnitzel seines Vaters ihn auf seinem Weg.
Plötzlich entwickelt sich Moral. Vor ein paar Monaten noch zog er den anderen Kindern die Schaufel über den Kopf, wenn sie ungefragt ein Spielzeug von ihm nahmen. Jetzt teilt er ungefragt seine Brausebonbons – die er zusammen mit einem PEZ-Spender erst wenige Minuten zuvor bekommen hatte – mit völlig fremden Kindern. Soziales Verhalten, Moral, Intellekt, all das scheint jetzt zu beginnen. Auch die ersten wirklichen Interessen – und somit vielleicht Talente; Ballett ist sein erster Traum. Ich bin gespannt, wie er die Ballettschule in der Wirklichkeit finden wird.

Donnerstag, 22. März 2012

 
Friedenau, der Spielplatz um die Ecke. Plötzlich wimmelt es dort von... wie nenne ich sie denn? Pöbel? Prolls? Asoziale?
Die neuen Vierjährigen, denen der Lebenshass schon bis zur Unterlippe steht, rempeln meinen Sohn an, und wenn er dann ruft "Hey, was soll das?", dann spucken sie in seine Richtung und pöbeln in schlechtem Deutsch hinterher. Derweil die Mütter Zigaretten paffend breitbeinig auf der Bank sitzen und nicht mit der Wimper zucken.
Wo kommen die plötzlich her? Früher waren die doch auf dem Asozialen-Spielplatz auf der anderen Seite des Damms. Können die nicht bitte umgehend nach Neukölln ziehen, oder in die Spandauer Vorstadt?
Wenn mein Kind sich weh getan hat, und ich es tröste, im Arm halte, dann stehen sie daneben und feixen uns an. Eine geradezu ekelige Schadenfreude trieft ihnen aus den Mundwinkeln. Plötzlich wieder so ein Gefühl wie im Reuterkiez, oder wie in Friedrichshain kurz nach der Wende. Ich ziehe die Schultern hoch und bin auf Ärger gefasst, obwohl ja wirklicher Ärger nicht droht, aber dieses unkomfortable Gefühl nistet sich wieder in meinem Körper ein, dass ich glaubte abgestreift zu haben, nachdem ich aus Neukölln fortgezogen war (damals, als es noch nicht der neue Szenekiez war, und die Schluckies an der Ecke meiner Frau üble Sachen hinterher gröhlten).

Ich mag es weniger und weniger, das deutsche Proletariat, oder wie immer man es nennen mag, ich mag sein schlechtes Benehmen nicht, seine eierschlenkernde Großkotzigkeit, die Intellektuellen- und Bildungsfeindlichkeit. Primitiv, dumm und stolz darauf.

Dabei komme ich zu einem Teil ja selbst dort her, habe die schlechten Schulen besucht, habe in den schlechten Stadtvierteln gewohnt, war verarmt (bin es noch), habe für 8 Mark 50 Zehnstundenschichten geschoben; aber vermutlich genau deshalb sind mir die Leute zuwider. Ich habe zuviele von der Sorte kennengelernt. Ich will so weit wie möglich diesem Unbehagen entfliehen, dass mich wohl schon damals im Griff hatte, auch wenn ich es versuchte mit Freundlichkeit und Verständnis auszugleichen. Und mit sozialistischer Ideologie. Aber wenn ich mir jetzt vorstelle: Diktatur des Proletariats. Und wenn ich mich auf diesem Spielplatz umschaue (der letztendlich kein Vergleich zu einem Spielplatz am, sagen wir, Wildenbruchplatz ist), dann weiß ich: never ever.

Und ich will nicht, dass mein Sohn in Gesellschaft der Kinder solcher Leute aufwächst, ich will nicht, dass er auf dieselbe Schule geht. Ich will, dass er sich fernhält.

Wenn das Proletariat, oder wie man es auch immer nennen mag, irgendwann seinen überdimensionierten 3-D-Flachbildschirm ausschaltet (ja, ja, ein Cliché), ein, zwei Bücher liest und ein paar Umgangsformen lernt, dann, ja dann können wir noch mal darüber sprechen.

Samstag, 31. März 2012

 
(Ich habe nachgedacht).

Ist dort draußen etwas? Jemand? Dann erzähle ihm von dieser Welt. Die Einzelheiten. Über die Kühlschränke zum Beispiel, und dass sie Gefrierfächer haben; aber früher, vor 35 Jahren, hatten sie nur so kleine Boxen für Eiswürfel. Dass man damals keine Tiefkühlpizza in diese Eiswürfelfächer hinein legen konnte, aber dass das nicht schlimm war, denn die erste Tiefkühlpizza (von Dr Oetker) kam viel später (in den 70er Jahren) auf den Markt (Salami).
Erzähl von den Glasplatten im unteren Bereich des Kühlschranks, auf denen die Wurst und das Fleisch tiefer gekühlt wurden, weil Glas die Kälte besser aufnimmt und hält als Plastik. Erzähl von der winzigen Glühbirne, die erst anging, wenn man die Kühlschranktür öffnete.
Erzähl von der Kühlschranktür, und wie sie bei den alten Geräten einrastete, und darüber wie die Eltern immer die Kinder ermahnten: Niemals, niemals, sollst du dich in den Kühlschrank setzen, denn dann geht die Tür versehentlich zu, und von Innen bekommst du sie nie wieder auf. Und dann...

... dann musst du ersticken. (Tote Kinder, aber, nein, sie leben noch alle. Sie sitzen auf den Kühlschränken von Bosch und Siemens. Sie hören der elektrischen Kaffeemühle zu. Orange und sehr laut).

Erzähl den Ausserirdischen von den Kühlschränken.
 
*

Ich habe mir gerade vorgestellt, Max Brod hätte seine Pflicht getan, und ich wäre heute, in einer Flohmarktkiste, auf das dünne Büchlein eines obskuren Schriftstellers gestoßen: "Betrachtung". Ach, und da, unter dem Uta-Danella-Schmöker liegt ja noch eins. Wie heißt denn das? "Die Verwandlung"? Ganz hübscher Titel, ich glaub, das nehm ich auch noch mit. Was kosten die zusammen? Ach, jedes Buch nur 50 Cent? Hamse noch mehr von dem hier? Kafka? Keine Ahnung, nie gehört. Dahinten, bei den Groschenheften liegt vielleicht noch eins? Na, dann will ich mal nachsehen. Ich hab gerade in dieses hier reingeblättert (hält "Die Verwandlung" hoch) - liest sich ganz interessant. Ja. Ah, danke fürs Raussuchen. Mh, "Ein Hungerkünstler". Das ist aber arg angeschmutzt, und der Rücken ist halb abgeplatzt. Ach, das ist ja nett. Drei für einen Euro.
Ja, gerne.
Ach, und hamse ne Plastiktüte, es fängt gleich an zu regnen.

Nebenbei: blättert man durch die Seiten von ebay, oder wühlt in den realen Flohmarktkisten, bekommt man massive Depressionen: selbst mir sind mehr als 90 % der Autoren völlig unbekannt. Lebenswerke, Bände um Bände, damals jedes einzelne Buch mit dem Lohn von drei Stunden Arbeit bezahlt, jedes einzelne Buch: Altpapier.
Geradezu rührend, wie manch uninformierter Mensch im Internet seine Schiller-Gesamtausgabe von 1977 (Buchclubausgabe; immerhin gab´s für die Mitgliedschaft ein Telespiel mit PONG und SQUASH) für schlappe 50 Euro feil bietet. Lachhaft und eben auch rührend. Altpapier.
Keine neue Erkenntnis, aber nichtsdestotrotz frustrierend.

Das erste Buch vom Franzl ("Betrachtung") verkaufte sich so schlecht, dass die Erstausgabe noch zwölf Jahre nach Druck zu haben war. Die Auflagenhöhe war 500 Exemplare. Franzl hatte also weniger als 50 Stück im Jahr verkauft. --- Und jetzt gefällt das mehr als 500.000 Leuten bei Facebook - ihr sollt nicht Kafka mögen, ihr sollt zeitgenössische, ernste Literatur kaufen. Herrgottnochmal.

(Und nun lese ich gerade, dass Kafka die Lasker-Schüler nicht ausstehen konnte, weder als Person, noch als Dichterin. Zitat von Franz: "Ich kann ihre Gedichte nicht leiden".
Mir ja auch immer ein völliges Rätsel geblieben, warum fast alle die Else gut finden. Nicht nur das halbgebildete Lehrer-Publikum (und ähnliche Mollusken), sondern größtenteils auch die zeitgenössischen Dichter. Ich höre immer wieder den einen oder die andere schwärmen. In Wirklichkeit sind Else Lasker-Schülers Zeilen aber: ein selbstgefälliges, sich blähendes, mit falschen Gefühlen überzuckertes Geschreibe. Kindisch, pseudoexotisch, wenig ernsthaft oder tiefgründig.
Leichte Kost für die Art von Massen, die nach den bohemehaften, exaltierten Dichtern sucht.)
 

*

 

Stattdessen die Vita des Herrn Kafkas ab dem Jahre 1922:

Nachdem im Dezember 1922 an der Charité in Berlin das Penicillin durch Alfred Grotjahn entdeckt wurde, begab sich Franz Kafka dort unverzüglich in Behandlung. Im Zeitraum der Therapie lebte Kafka mit seiner Freundin Dora Diamant in der Grunewaldstraße 13 (Steglitz).
Nach seiner vollständigen Genesung zog er zurück zu seinen Eltern nach Prag. Da er dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war, arbeitete er nur noch halbtags in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt und konzentrierte sich auf sein Schreiben. 1930 erschien dann sein achtzigseitiger Kurzroman "Vor der Verhandlung" bei Ernst Rowohlt Berlin.
Im darauf folgenden Jahr zog Kafka, nach dem Tod seines Vaters, erneut nach Berlin, wo er sich auch seiner ehemaligen Geliebten Dora Diamant wieder annäherte. Die nächsten Monate wohnten die beiden in der Cranachstraße 5 in Neu-Friedenau, bevor sie sich gemeinsam mit Kafkas Freund Max Brod nach Palästina einschifften. Dieser Entschluss wurde nicht zuletzt durch den erstarkenden Antisemitismus in der Reichshauptstadt begünstigt.
In Palästina angekommen, lebten die Drei die Zeit bis zum Kriegsausbruch in dem Kibbuz Bet Sera. Kafka arbeitete nebenher als Filmkritiker für deutsche Emigrantenzeitungen und veröffentlichte 1939 - fünf Tage vor Kriegsausbruch - sein Hauptwerk, den mehr als achthundert Seiten zählenden Roman "Das Schloss" in dem kleinen Tel Aviver Verlag Salman Schocken.
1943 trennte sich Kafka von Dora Diamant und zog nach Jerusalem, wo er bis 1947 die Zeitschrift "Stern und Siegel" herausgab, die eine der wichtigsten Publikationsorte für deutschsprachige Schriftsteller in der Emigration wurde. Zugleich versank Kafka in tiefe Depressionen, da er über den Verbleib seiner Familie nichts heraus finden konnte. Erst 1946 erfuhr er über Max Brod, dass alle seine drei Schwestern in der Todesmaschinerie der Nazis umgekommen waren.
Seinen Schwestern setzte er daraufhin ein Denkmal mit dem legendären Spätwerk "Schattenlabyrinth", das Kafka in den Jahren bis 1954 schrieb, und das nach langer Verlagssuche 1957 bei Hanser in München erschien. Das Buch wurde der Überraschungserfolg der Frankfurter Buchmesse 1957, und Kafka wurde in allen großen Kulturbeilagen eingehend und begeistert als die Wiederentdeckung des Jahrzehnts besprochen.
Nicht zuletzt diese späte Anerkennung bewog den mittlerweile 74jährigen nach Europa zurückzukehren. Er wohnte die letzten Jahre seines Lebens im Münchener Stadtteil Grunwald in einer Einlieger-Wohnung der Villa eines wohlhabenden Bekannten.
1962 veröffentlichte Kafka einen letzten Band mit vier späten Erzählungen, und im selben Jahr schrieb er für die FAZ die erste deutschsprachige Kritik über eine Popgruppe, die den Namen "The Beatles" trug.
Franz Kafka starb im Alter von 81 Jahren am 1. Februar 1964 in München.
In seinem Nachlass fand sich kein einziges unveröffentlichtes Manuskript.a

Mittwoch, 4. April 2012

 

Den ganzen Abend The Beatles gehört. Sowohl ihre frühen Platten, als auch Let it be und Magical Mystery Tour. Gute Musik, verblüffend wenig eingestaubt. Und die Wildlederjacken, die die Jungs schon 1963 trugen, die pure Avantgarde.
Ich bin mit dieser Musik aufgewachsen (und mit Django Reinhardt, Edith Piaf, Gisela May, Elvis, Gene Krupa), habe mit sechs oder sieben Jahren zu Lucy in the sky with diamonds getanzt. Und zu Tomorow never knows – dieses Lied aus der Zwischenwelt, das ich schon als Kind großartig fand. Das Gezwitscher der künstlichen Möwen.
Mit Zwölf fing ich dann an zu Scratchen, mit der Revolver-Platte; es war die Zeit von Grandmaster Flash (dessen Scheiben ich mir noch nicht leisten konnte) und von Breakdance. (O ja, ich machte den Smurf und den Robot auf der Kaiserstraße in Karlsruhe, ich hatte weiße Karottenhosen an, und einen weißen Borsalino auf dem Schädel, und ich fühlte mich GUT).
Ich ruinierte also die Beatles-Platten meines großen Bruders, und ich war glücklich. Das war die Zeit, in der ich die ersten Sachen schrieb. Ich war also gerade Zwölf geworden und arbeitete an meinem ersten Roman – 64 handgeschriebene Seiten in einem blauen Din-A-5-Schulheft. Der Titel: Chris Colman, Universität des Grauens!
In knapp zwei Monaten runter gerotzt. Ich tippe dieses Jugendwerk justamente in die Tastatur meines Notebooks, weil ich das ganze ausdrucken, kopiere, heften und verschenken will, um mein dreißigjähriges Jubiläum zu feiern, das nächsten Monat ansteht. Dreißig Jahre Literatur, und schuld ist Jason Dark, der Vater der Groschenroman-Reihe John Sinclair. Ich las die mit zunehmenden Fanatismus als ich zehn, elf Jahre alt war. Und mit Zwölf dachte ich: Voß, das kannst du auch! Und ich schrieb vier Chris-Colman-Romane, bevor ich mit schlechten Gedichten begann.
Vor gut zehn Jahren las ich auf einer Lauter-Niemand-Veranstaltung aus dem Manuskript. Und ich kam vor Lachen kaum über die ersten Zeilen hinaus. Wie niedlich war dieser Text, so unbedarft, auch ein wenig unbeholfen, so herzallerliebst. Mit Zombies und Ghouls auf dem Klo, und mit einem schwarzen Hexer namens Diabolis, der nichtsdestotrotz einen orangefarbenen Overall trug und ein Schwert in der Hand führte, dass mit dem Blut des Erzengels Michael gefüllt war. Niedlich.
 
Später dann ernsthafte Texte, surreale Gedichtzyklen, spät-avantgardistische Prosafragmente, Beckett-gesättigte Theaterstücke. Und immer dieser Größenwahn, und immer diese Erfolglosigkeit. Aber immer weiter.
Ich nahm mir irgendwann vor, ich würde Wirt werden, hätte ich nicht bis zum 35sten Geburtstag ein Buch publiziert. Glücklicherweise kam mein erster Gedichtband einen Monat vor dem Stichtag in die Geschäfte. Naja, nicht gerade in die Geschäfte, aber er wurde gedruckt und hatte eine ISBN.
Angefixt war ich zwar schon zuvor, aber ab diesem Zeitpunkt war ich für die natürliche Welt verloren. Vielen Dank, Jason Dark!
 
„Abschlussball – drei Klassen des Studienfachs “Archäologie und Geschichte” jubelten.
Die Abschlussfeier wurde in Gestalt einer Disco gefeiert, doch was keiner ahnte: Das Grauen war da, eine Flut von Zombies und Ghouls feierten das Fest mit, aber nach ihrem Geschmack. Und dann kam der Anführer der Armee des Schreckens: Diabolis, der schwarze Hexer! Er war genauso teuflisch wie sein Name. Und als dann noch sein Bruder Nagaso auftauchte, war das Chaos perfekt. Für die Studenten aber wurde es zum einzigartigen Alptraum!“
 
(Was für ein Anreißer!)
 
Zu schade, dass man nicht alles festhalten kann, was durch den Kopf schwebt. Es wurde Tage kosten, allein eine halbe Stunde Denken zu dokumentieren, ach was, es würde Jahre brauchen, und heraus kommen würde der letzte Teil der Irrfahrt von James Joyce. Und das will ich ja gar nicht, trotzdem schade. So viele wertvolle Gedanken im Schädel, und alle nur Rauch, nicht mal Schall. Vielleicht überfluten sie mich wieder, im Moment meines Todes. Aber wenn ich mir den Sterbemoment meines Vaters in Erinnerung rufe, bezweifle ich das.
Beim nächsten Wald-und-Wiesen-Stipendium lasse ich die Natur vor der Tür und berichte online nur noch von meinem Inneren. Aber: interessiert das irgendwen... außer mich. – Das reicht.
Eigentlich eine schöne Vorstellung: nicht zu leben, sondern nur die Gedanken darzustellen, die man hat, während man am Leben nicht teil nimmt. – Aber kommt in erster Linie nicht nur solches Rumgedenke dabei raus, wie es sich jetzt hier die letzten Zeilen entwickelt hat? Abfall für alle?
Ich lese zur Zeit Goetz´ Online-Tagewerk, jetzt verpackt zwischen zwei Suhrkamp-Buchdeckeln, weil Sabine Scho immer so mit mir schimpft, dass ich so über Goetz schimpfe. Gut, Loslabern habe ich schon hinter mich gebracht (langweilig), jetzt also Abfall für alle. Nicht mehr in diesem Leben, Baby, befürchte ich, stattdessen lieber noch ein Buch von Krausser. Goetz hat mir einfach zu wenig zu sagen. Und sein Stil: öde. ADHS allein hilft nicht weiter. Oberfläche auch nicht.
(Schlagt mich. Jetzt.)
 
Sollte ich auch mal nach Klagenfurt eingeladen werden, schlitze ich mir nicht die Stirn auf, sondern ich klebe mir ein Kinderpflaster drauf. Ein bisschen Kunstblut, dass unter den himmelblauen Bärchen hervor quillt, und schon bin ich ein Star. Ein Knallstern.
 
(Ich wollte auch immer so ein Reiter sein).

Samstag, 7. April 2012

 
Ich höre Lieder der Troubadore aus dem frühen 13ten Jahrhundert und schaue in den Himmel. Ein paar Krähen fliegen über den Dächern und Holzrauch der Osterfeuer zieht über die Schindeln hinweg. Holzrauch über Ingelheim.
Die Familie, die Verwandten und alle Kinder sind im Garten und rösten Stockbrot, derweil ich in den grauen Himmel starre und auf eine Fernsehantenne. Sie steht unter dem Holzrauch auf dem Dach vis à vis. Diese Antennen sieht man in den letzten Jahren kaum noch, sie fielen der Digitalisierung zum Opfer, sind fast überall schon abgebaut worden. Mir waren lange keine mehr aufgefallen.
In meiner Kindheit standen Wälder dieser Antennen auf den Dächern von Lüneburg, und selbst auf dem Logo der Tagessschau waren sie als Schattenrisse zu sehen. Es ist seltsam: ich habe sie nie als hässlich empfunden, eher als Taktgeber des Firmaments.
 
In meinen Ohren, gespeist von einem MP3-Player, wird die Ballade eines Brüderpaars (Tormier et Palazi) abgespielt, geschrieben um 1160. Fernsehantennen der 1970er Jahre. Zukunftsaussichten: dunkel. Alles vermischt sich.
Mir ist seit Tagen schon schwindelig, und die osterliche Kälte macht mich frieren. Und im Schlaf träumte mir ein Schlaf, in dem mir etwas träumte, das ich im umfangenden Traum vergessen habe.
(Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens).
Draußen springen die Verwandten auf dem neuen Trampolin.
 
(Alles gleicht sich, ist gleich gültig, gleicht sich aus).

Sonntag, 8. April 2012

 
Wie wenig sich geändert hat, in den letzten vierzig Jahren. Wir fahren noch immer in Benzinkutschen, wohnen in Altbauwohnungen, tragen Jeans und Jackett. Wenn ich nochmal in die SciFi-Romane der späten 70er hinein blättere: was für große Erwartungen. Marsmissionen, mondgroße, geostationäre Raumstationen (schon in den 50er Jahren von Wernher von Braun entworfen, vermutlich als eine Art kosmisches Neuschwabenland), Kernfusion.
Stattdessen ist nicht viel passiert. Die Computer sind kleiner geworden, ohne Zweifel, aber es ist die selbe Technik (vielleicht auch nur die gleiche). Mobilfunkgeräte sind ebenfalls miniaturisiert, aber Oberinspektor Derrick hatte schon 1973 ein Autotelefon (vermutlich A-Netz, vielleicht aber auch schon das hypermoderne B-Netz).
Und das Arpanet heißt seit zwanzig Jahren Internet, und ist auch außerhalb militärischer und wissenschaftlicher Kreise zugänglich. Videospiele (damals Telespiele genannt) bestehen nicht nur aus drei Pixelblöcken (PONG), aber man wird genauso stumpf in der Birne von einer halben Stunde Mario Brothers (und Super Mario existiert jetzt auch schon seit 30 Jahren).
Das Einzige, das sich stark gewandelt hat, ist die politische Lage. Systemwechsel, Sieg des Kapitals. Und die Literatur hat sich verändert, zum Besseren hin (vielleicht weil sie sich nicht mehr für das Politische zuständig fühlt). Sie ist viel komplexer geworden, tiefgründiger, weniger starr.

Aber was Umgebung und Lebensumstände anbelangt, leben wir in den anhaltenden, sich in die Jahrzehnte blähenden 70ern. (Goodbye seventies, sangen Yazoo 1982). Die gleichen Klamotten, die gleichen Kinder- und Gesellschaftsspiele, die gleichen, nein, die selben Filme (STAR WARS). Nur Barbie heißt jetzt LilliFee, und das Phantom ist in Rente gegangen (nach einem missglückten Wiederbelebungsversuch). Die anderen Superhelden allerdings: alle immer noch schwer am Machen. (Und die Masters of the Universe warten schon auf ihre Neuverwertung. Sie warten in der Weltraumstadt "Wernher von Braun II").

Freitag, 13. April 2012

 
Vor einigen Tagen habe ich damit begonnen Familienphotos einzuscannen. Bald werden die ersten photographierten Generationen meiner Familie im Orkus, in der Namenslosigkeit verschwunden sein. Schon bei der Generation meiner Urgroßeltern fällt es mir schwer, eine in meiner Kindheit kolportierte Anekdote aus dem Gedächtnis hervor zu kramen. Ja, mein Urgroßvater, der Maler Johannes Tielens, über den weiß ich einiges (aber viel letztendlich auch nicht, obwohl er recht bedeutend für die europäische Moderne war; es muss unter anderem noch ein Teil seines Briefwechsels mit Kurt Schwitters in dessen Nachlass sein, aber ich komme einfach nicht dazu, nachzuforschen). Der Rest dieser Familie hingegen: fremde, viktorianische Kleinbürgergesichter. Teilweise von einer unglaublichen Verkniffenheit. Ab und an ein Bonvivant mit Kreisäge. Wer waren die? Was ist von denen in mir?
 
Wie gestern Abend schon Thetis zu Archill sagte, dargestellt von Julie Christie und Brad Pitt in dem Film Troja: deine Kinder werden sich an dich erinnern, deine Enkel nur noch an einen alten Mann, danach wird dein Name vergessen sein, es sei denn du ziehst gegen Troja. Dann: Unsterblichkeit. (Und mir kommt mein neuer Roman wie Troja vor).

Auch die Photographien der 70er Jahre sehen für mich schon ausgesprochen historisch aus. Wie verblasst die Farben, wie Fremd dieses Kind, das ich war. Wenn auch nett anzuschauen, könnte der Bruder meines Sohnes sein. - Und wie karg die Inneneinrichtungen, fast ärmlich. Wie fett die Welt geworden ist seitdem.
 
Tristan wird sich noch an meine Person erinnern, wenn er alt ist, und seine Kinder vielleicht. Dann ist meine Person verschwunden, voll und ganz. Übrig werden nur die Bücher dieser Person bleiben (wenn es gut läuft; in allen meinen Träumen sehe ich Flohmarktkisten im Jahre 2065: Kennst du den? Nie gehört, lass lieber liegen, der Band müffelt zu sehr nach Keller!). Nur die Berichte in den Büchern, aber kein Fleisch, kein Blut, kein Geruch.

Und selbst die Photographien werden irgendwann fehlgedeutet, können nicht mehr zugeordnet werden. In den Müll damit, oder (wenn es gut läuft) auf den Speicher.

Jahrzehnte später versuchen die Germanisten die Gesichter zuzuordnen: ist das der Voß? Nein, das kann nicht sein. Zur Baumblüte in Werder 2005 war er doch nachweislich in Spanien. Wir haben da sicher datierte Bilder im DLA. Aber wer ist es dann? Die Person ähnelt ihm sehr. Ein Doppelgänger?

Vor einigen Jahren wurde eine Photographie aus der Zeit um 1885 gefunden, vermutlich in Aden aufgenommen. Ein Mann auf dem Photo könnte Arthur Rimbaud sein. Es wäre das einzige Bild, das ihn (mit erkennbaren Gesichtszügen) im erwachsenen Alter zeigt, einige Jahre vor seinem Tod.
 
Sieht so ein Dichter aus? Nein, so sieht ein Waffenhändler aus. Ein etwas verschlagener, etwas stumpfer Abenteurer. So sah er aus: Rimbaud. Glaube ich.

(Rimbauds größte Werke / waren seine Gewehre / Ich habe sie alle gelesen / und starre jede Nacht hinein)

Montag, 16. April 2012

 
Schon meine gesamte Kindheit habe ich mit Malen verbracht, jeden Tag saß ich über Papier gebeugt, im Kindergarten, in der Schule, zu Hause.
Einmal, als ich eine Maske für Fasching malte, beugte sich meine Kindergärtnerin dazu und fragte, woher ich denn den silbernen Stift hätte, mit dem ich diese große Maske ausgemalt hatte. Es war ein Bleistift, ich hatte stundenlang daran gearbeitet.
Jahre später, 1979, beim Umzug von Lüneburg nach Karlsruhe, gingen alle Zeichnungen verloren, mehr als zweitausend Stück. Mein Frühwerk - vermutlich auf der städtischen Müllkippe.
Eines der wenigen Dinge, die die Zeiten überlebte, war ein Ausmalbuch mit Geschichten aus dem Alten Testament. Vermutlich weil es beim Umzug in einer Bücherkiste gelandet war. Ich mag noch heute die wilde, psychedelische Farbgebung.

Der Rest also auf der Müllkippe; das dämpfte meinen Ehrgeiz und meinen Fleiß für einige Jahre, bis ich dann mit Fünfzehn wieder anfing, nachdem ich in der ART einige Bilder von Helmut Middendorf und Rainer Fetting gesehen hatte. Farbrausch.
In den 90ern lebte ich als Maler in Friedrichshain und Kreuzberg, hatte die eine oder andere Ausstellung, und steckte mit dem Schreiben zurück. Meine Wohnung war mein Atelier und roch nach Terpentin, Leinöl und Knochenschwarz (ein Geruch wie aus der Gruft). Dazu Nikotin und abgestandener Rotwein (die Flasche für 1 Mark 99).
Ich wurde besser, aber ich wurde niemals wirklich gut. Ich stieß gegen Wände, ich war nicht so gut, wie ich sein wollte, also hängte ich die Palette an den Nagel, kurz nach der Jahrtausendwende. Die letzten Sachen waren abstrakte Aquarelle (die einzigen eigenen Arbeiten, die noch heute im Flur hängen).

 

Vorbei das Leben der Boheme, keine trocknenden Bilder an den Wänden, keine Farbspritzer und ausgedrückten Zigarettenkippen auf dem Dielenboden, nur noch Schriftsteller.
Nur noch Schriftsteller, aber was für einer. Nachdem ich das Malen aufgegeben hatte, ging das Leben als Künstler erst richtig los: sechzig, siebzig Gedichte im Jahr, Theaterstücke, Romane. Endlich keine Wände mehr.

Heutzutage befriedige ich meine Sehnsucht nach bildnerischer Arbeit mit merkwürdigen Computergrafiken und Skulpturen aus LEGO.

Samstag, 21. April 2012

 
Bach, Werke für Laute, auf nur einer Laute von Walter Gerwig 1964 eingespielt, was unfassbar ist, denn es hört sich teils wie zwei Instrumente an. Gerwig ist ein bis heute unerreichter, und leider fast vergessener Musiker - und ich habe viele Lautenisten gehört - ein Genie sowohl der Technik als auch der Inspiration. Immer wieder ist es für mich beglückend ihn zu hören. Nur gut, dass es Tonkonserven gibt, ich wäre sonst nie in den Genuss gekommen, denn Walter Gerwig starb bereits 1966 mit Mitte Sechzig.
Mein größter Traum wäre ja die Erfindung des Phonographen fünfzig Jahre früher, als sie dann leider erst stattgefunden hatte. Wir könnten nicht nur Schumann hören, wie er seinen Kindern die Waldscenen vorspielt (sein Kopf nickt leicht dabei), wir könnten auch den alt- und stocktaub gewordenen Beethoven beim Improvisieren lauschen (neben sich, auf einem Schemel, die Rotweinflasche). Und, ich darf nicht dran denken, wir könnten akustisch dabei sein, wenn der traurige Schubert allein an seinem Fortepiano sitzt - nicht im Kreise seiner Freunde, nein, allein in seinem Zimmer, eine Lampe auf dem Tisch am Fenster, hinter den schlierigen Fensterscheiben wirbelt der Schnee) - und er spielt nicht nur, er singt auch noch: Die Winterreise... Eine Krähe war mit mir aus der Stadt gezogen.

Die Stimme Goethes: eine Mischung aus hessischem und thüring´schem Näseln. Hölderlins autistisch vernuscheltes Schwäbisch. Heinrich Heines sanfmütiges Rheinisch. Merkwürdige Vorstellungen.

Immerhin habe wir ein annäherndes Beispiel von Beethovens Improvisationskunst: der Klavierteil der Chorfantasie c-moll op. 80 wurde bei der Uraufführung vom Maestro selbst, ja, phantasiert, und nach der Premiere dann in Noten gesetzt. Offenbar ohne größere Überarbeitungen. Mit Opus 80 haben wir sozusagen einen Live-Mitschnitt.

Und Robert Schumann hätte ja fast das Alter für die erste Aufnahme erreicht, hätte er sich nicht die Leber weg gesoffen; im April 1860, siebzehn Jahre vor Edisons erster Phonograph-Aufnahme, wurde eine unbekannte Frauenstimme festgehalten, auf dem obskuren Phonautograph des Franzosen Edouard-Leon Scott de Martinville. Etwas über eine Minute lang erklingt, nein, erkrächzt das Kinderlied "Au clair de la lune". Eine Stimme die nun genau 152 Jahre alt ist. Hier zu hören: Klick

Sonntag, 22. April 2012

 
Ich höre gerade Peace dragon, das letzte Album der Beatles, das, nach einer Phase der Agonie, im Jahre 1973 auf den Markt geworfen und über zwanzig Millionen Mal weltweit verkauft wurde.
Nachdem sich Lennon und McCartney 1970 – nach einer kreativen Pause – zusammen gerauft hatten (denn ihre Soloalben waren gefloppt) hatten sie zusammen mit George und Ringo ihr bis dato schlechtestes Album veröffentlicht (Going Home, ein müder Aufguss ihrer frühen Erfolge, angefüllt mit zweitklassigen Rock´n´Roll-Songs). Im Frühjahr 1971 trennte sich dann George Harrison von der Gruppe um, wie er sagte, etwas Ruhe in einem Ashram zu finden, und wurde durch Sterling Morrison ersetzt, der vormals bei The Velvet Underground gespielt hatte. Lennon hatte Morrison einige Monate zuvor bei einer Vernisage Andy Warhols in New York City kennen gelernt.
Durch die neue Leadgitarre war der Sound der Beatles düsterer geworden, Peace dragon näherte sich dem an, was man heute als Protopunk oder Proto-New-Wave bezeichnen würde. Lennon verarbeitete in einigen explodierenden Klangcollagen die ambivalente Beziehung zu seiner Mutter, und Sterling Morrison untermalte diese Urschrei-Erfahrung mit einem sägenden, dröhnenden Gitarrensound.
Die Kritiker waren überrascht, das Publikum war es auch, und obwohl sich nur Paul McCartneys Coverversion von Woody Guthries This land is your land in den Charts platzieren konnte, verkaufte sich das Album über die Jahre so gut, dass auch der Rolling Stone es 1983 zu den Hundert wichtigsten LPs der 70er zählte.
Ins Besondere die Lennon/Morrison-Komposition War is in my head wurde in den 80ern oft gecovert, und 1984 landeten Joy Division mit diesem Song ihren größten Hit, was sicherlich an der grandiosen Interpretationskraft Ian Curtis lag.
Doch 1974 zog sich John Lennon aus dem Musikgeschäft zurück - aus seinem Umkreis wurde berichtet, er sei ausgebrannt - und kaufte zusammen mit seiner zweiten Frau Yoko Ono eine Farm in Nevada, wo er nurmehr Gedichte schrieb, die zwar regelmäßig veröffentlicht wurden, sich aber nicht gut verkauften.
1978 dann gab er zusammen mit Paul, George und Ringo ein Reunion-Konzert im Madison Square Garden, an dem auch Sterling Morrison als zweiter Leadgitarrist teilnahm, und bei dem Lou Reed einen Gastauftritt mit Tomorrow never knows hatte.
Auf einer Photographie können wir David Bowie und Iggy Pop im Publikum sehen, die anlässlich des Konzerts extra von Berlin-Schöneberg angereist waren.
1979 gab Lennon bei Stiff Records sein zweites Soloalbum heraus, eine Homage an Brecht/Weill, auf dem auch ein Ausschnitt der Dreigroschenoper zu hören war. Yoko sang die Seeräuberbraut. Danach zog er sich erneut auf seine Farm in Nevada zurück. Dort starb er 1982 an der Kugel eines Attentäters, der so perfide war, sich als bedürftiger Gast aufnehmen zu lassen, und dessen Namen hier nicht genannt werden soll.
 
Träume. So große Träume. (Seinen ersten Roman publizierte Lennon 1989; die berührende Geschichte der  Ehe seiner Tante Mimi). Träume. Es träumte mir eine andere Welt.
Natürlich höre ich nicht Peace dragon sondern Beatles for sale und Revolver. Bald ist es fünfzig Jahre her, das die Band ihre erste Single rausgebracht hat. Ein halbes Jahrhundert; das macht die Sache noch historischer, als sie es ohnehin die letzten Jahre (seit der Wende) war. Aus längst vergangenen Jugendtagen... aber, halt, da war ich noch nicht einmal geboren. So lange ist das schon her, so lange. Aber der Sound der Konserve: tiptop (dank George Martin).
 
Ein merkwürdiges Phänomen, dass ich mich wieder so intensiv mit den Beatles beschäftige, ich lese sogar eine neue Biographie über Lennon (von Thomas Göthel – gar nicht mal schlecht), ich höre die alten Platten, die ich mir in den letzten Wochen aus der Bibliothek ausgeliehen und gebrannt habe, denn die Vinylscheiben aus meiner Kindheit und Jugend sind nicht mehr das Wahre. Ich habe mit ihnen – ich erwähnte das schon – zu viel gescratcht in den frühen 80er Jahren.
 
Ich kann mich erinnern, wie ich zum ersten Mal eigenständig eine Platte auf die elterliche Stereoanlage legte (die teuer bezahlt war mit einer Monatsgage). War es Django Reinhardt? Das Lied mit der Singenden Säge, das ich so liebte, als ich sechs Jahre alt war, oder war es Revolver, auf der ich Taxman immer wieder hören wollte; diese keifende E-Gitarre? Und die Möwen auf Tomorrow never knows, ich liebte sie, als ich ein Kind war (liebe sie noch heute, habe demletzt alle Loops auf youtube gehört, alle Loops befreit von der Musik; diese Geisterklänge, die nackt in der Tonspur standen).
 
Und ich habe mich selbst gehört.
Tapes meiner ersten Bands, aufgenommen in mit Holz verschalten Proberäumen im Zeitraum 1986 bis 1990. Geisterhafter noch als die Möwen, ist meine Stimme. Ein dünner Junge in der Provinz, der viel vor hat, der viel sein will. Mit einer gar nicht so üblen Stimme. Und mit Zorn. Und mit Melancholie.
All diese Cassetten muss nun ich digitalisieren mit dem merkwürdigen, walkman-artigen Gerät einer Feundin (danke, Barbara). All diese Bänder soll ich digitalisieren? So viel Vergangenheit! Und alles auf den guten BASF-Bändern, die auch nach einem Viertel Jahrhundert keine Drop-outs haben. Die BASF-Cassetten mit den hellbraunen Hüllen. Die kosteten seinerzeit fünf oder sechs Mark pro Stück, das Taschengeld einer ganzen Woche.
Immerhin habe ich investiert, habe keinen Mist für zwei Mark gekauft, kann jetzt die rührenden Versuche, ein Rebell zu sein in der Stereoanlage meines Vaters hören, die letzte Stereoanlage, die er besessen, und die ich ihm gekauft hatte, bei Neckermann, fünf Jahre vor seinem Tod.

Mittwoch, 25. April 2012

 
Endlich Frühling. Endlich wieder atmen im Grünen. (Leider auch mit leichtem Heuschnupfen). Morgen soll das Thermometer über zwanzig Grad anzeigen, und am Wochenende, zu meinem Geburtstag, dann der Sommer - der offenbar dem langgezogenen Winter folgen mag.
Gestern habe ich mir in der Bibliothek die Fernsehserie "Holocaust" ausgeliehen und heute Morgen gleich die erste Folge in das Laufwerk des Notebooks gelegt.
Ich kann mich gut erinnern, wie ich mit neun Jahren die Serie zum ersten Mal sah. Ganz (West)-Deutschland hockte vor den Empfangsgeräten und beschäftigte sich zum aller ersten Mal mit Schuld. Mit der eigenen nämlich. Und auch meine Eltern schauten zu und ließen uns Kinder teilhaben, mitschauen. Es war, glaube ich, meine erste Erfahrung mit einem Erwachsenenthema, und ich erinnere mich, dass meine Eltern zuvor lange diskutiert hatten, ob ich für diese Filme noch zu klein wäre. Ich war es nicht, und natürlich beeindruckt, und verstört, und nachdenklich.
Kaum etwas aus dem Erwachsenen-Fernsehprogramm ist mir so nachhaltig in Erinnerung geblieben, außer vielleicht noch die Serie "Der Eiserne Gustav", die zum Teil ja auch in der Nazi-Zeit spielte. (Legendär die Szene, als dem schönen Eugen das Gesicht mit Leuchtspurmunition verbrannt wird - Gott, was habe ich mich damals gegruselt; demletzt wieder, als ich die Serie nochmals sah).
Auch "Holocaust" wirkt als Film wenig angestaubt, doch natürlich ein wenig kulissenhaft und durchkonstruiert. Aber das ist bei dem Thema kaum zu vermeiden. Die Frage war ja schon immer, und ist sie noch, ob man das Grauen von Auschwitz darstellen kann? (Und der Halbsatz "Das Grauen von Auschwitz" wirkt in einem Blog auch schon abgeschmackt und fehl am Platz - die Annäherung an die Shoah, sei es künstlerisch oder berichtend bleibt nahezu unmöglich, jedenfalls für die Nachgeborenen. Das einzige Werk zu diesem Themenkomplex, das mich völlig überzeugt und völlig mitgenommen hat (in des doppelten Sinne), war "Nacht" von Edgar Hilsenrath).
Jedenfalls ist  die Serie - ins Besondere für eine Hollywoodproduktion - erstaunlich differenziert und historisch informiert. Und ich fiebere natürlich  für die Familie Weiss, heutzutage vor allem für den Vater... bald werde ich zweiundvierzig.

Ich war vier Jahre alt, als wir den ersten Fernseher bekamen, zur Fussballweltmeisterschaft; mein Vater hatte darauf bestanden. Die erste Röhre, schwarzweiß natürlich, und der Empfang war größtenteils unterdurchschnittlich, um es vorsichtig zu sagen: ständig rauschte dichter Schnee über den Bildschirm, jede Fernsehansagerin (Hanni Vanhaiden!) zog ein Geisterbild hinter sich her, aber endlich konnte ich auch die Rappelkiste sehen, und das Feuerrote Spielmobil, den Schülerladen. Dies alles Sendungen, die mittelbar und in Reaktion auf die Nazi-Zeit entstanden waren, als antiautoritäres Antidot zum Faschismus. Was mir als Kind natürlich wurscht war, ich wollte Pan Tau sehen und die tschechischen Knetmännchen. Den Maulwurf Grabowski (wobei, der kam in der Sesamstraße) - der Ostblock hatte sowieso in allen Kinderherzen gesiegt, denn von dort kamen die besten Trickfilme (und mehr und mehr auch aus Japan).

Heute habe ich keinen Fernseher mehr, kurz vor der Geburt unseres Sohnes haben wir ihn verschenkt. Nur ab und an möchte ich eine Erfahrung wiederholen und leihe eine DVD aus. Leider gibt es da keine Fernsehansagerinnen mehr. Und keine Diskussionsrunden im Anschluss, in einem Studio mit schwarzem Hintergrund, vor dem sich der Zigarettennebel besonders gut abhebt, denn alle, alle in der Runde rauchten eine nach der anderen. Auch das natürlich ein mittelbar antifaschistisches Element (Wir erinnern uns "Der Führer" war Nichtraucher und sehr besorgt um die deutsche Volksgesundheit). Ich will die Leute im Fernseher wieder rauchen sehen. Meinetwegen E-Zigaretten.

Donnerstag, 26. April 2012

 
Heute ist der Jahrestag. Vor 26 Jahren platzte der Reaktor in Wermut (russ.: Tschernobyl). Und die ersten Nachrichten über den Super-GAU wurden in der ARD an meinem sechzehnten Geburtstag vermeldet - es bestand natürlich keine Gefahr für die Bevölkerung, wie uns der Herr Innenminister Zimmermann versicherte. Merkwürdig nur, dass es in Süddeutschland kurz darauf keinen Salat mehr zu kaufen gab, und auch die Pilzsaision würde ins (leicht radioaktive) Regenwasser fallen. Wildschweine und Rehe wurden fortan alt und fett. Und zuvor waren in Karlsruhe schon die Kinderspielplätze gesperrt, und der Sand wurde einige Wochen später ausgetauscht.

Vier Jahre zuvor hatte ich zum ersten Mal diese Abkürzung gehört: GAU. Im Erdkundeunterricht wurde der Nutzen der Atomkraft durchgenommen, und der Herr Lehrer versicherte, dass natürlich keine Gefahr für die Bevölkerung entstehen könne, eine GAU nur in der Theorie möglich sei.
Als ich nachfragte, renitenter Zwölfjähriger der ich war, beharrte er auf seinen Vorgaben. Und ich beharrte darauf, dass es mir nicht einleuchten würde, dass ein GAU nicht passieren könne.

Ich hatte viele unfähige Lehrer in meiner Jugend, nicht nur dieser erste Erdkundelehrer war völlig vernagelt, auch eine spätere Lehrerin des Fachs machte sich lächerlich, als sie vor der versammelten Klasse behauptete, die Antarktis sei eine Ansammlung von kleineren Inseln, auf dem nur der Eisschild über dem Meeresspiegel ruhen würde. Als ich widersprach und vorschlug, doch einmal im Atlas nachzuschauen, denn da sei sicher ein Querschnitt des Kontinents abgebildet, eines Kontinents, der auch eisfrei noch immer größer als Australien sei, da putzte sie mich runter und ließ, sie war sich ihrer fachlichen Kompetenz so sicher, den Atlas aufschlagen. Und in dem schönen, dunkelblauen Diercke-Schulatlas war er natürlich, der Querschnitt, und er zeigte, dass es sich nicht um Inseln sondern um Gebirge eines Kontinents handelte, und das schon eine sehr große Welle hätte kommen müssen, um über die Berge hinweg die zentrale Tiefebene zu überfluten (wenn man einmal annahm, der Eisschild sei nicht vorhanden). Ich hatte also Recht behalten und wurde zur Strafe vor die Tür geschickt.
Die gute Frau Duelli, ich habe sie in Erinnerung behalten. Genauso wie meinen Deutschlehrer Herrn Albertini, der mir eine Vier gab in der Zeit, in der ich zu Hause schon Theaterstücke schrieb. Ein Pädagoge sondergleichen. (Den einzigen wirklich guten Lehrer, dem ich auf all meinen Oberschulen begegnete, war der Geschichtslehrer Herr Schumacher; der war gut, der hat mir was beigebracht).

Ich hoffe, die zukünftigen Lehrer meines Sohnes werden nicht ganz so schlecht sein, und ihm meine schulische Karriere ersparen, die in absteigender Linie Gymnasium, Real- und Hauptschule umfasste.

Mittwoch, 9. Mai 2012

 
Mit meinem Sohn ging ich am Nachmittag an der Buchhandlung des Viertels vorbei ("Walthers Buchladen"), und das Kind rief (wie immer): "Ein Pixi! Ein Pixi!"
Ich schüttelte den Kopf und zog es an der Hand weiter (an der Buchhandlung vorbei, die für das Kind offenbar das war, so schien es, was für andere Kinder gemeinhin McDonalds ist). Das Kind schrie und zeterte. Ich beugte mich zu ihm und sagte: "Tristan, ich kann dir nicht ständig Bücher kaufen."
Mein Sohn blickte mich trotzig und schlau an und erwiderte fest und bestimmt: "Aber ich brauch das für meine Arbeit!"
Was sollte ich tun? Ich kaufte ihm also ein Pixi, meinem Schriftstellersohn ("Max lernt schwimmen").

An der Tür nahm ich noch eine "Rowohlt Revue" mit. Habe ich lang nicht mehr gelesen. Und ich kann mich erinnern, wie ich mit 14, 15 Jahren alle Vierteljahre dem Erscheinen entgegen fieberte. Ich lief Ende des Quartals immer schon zu früh zur Montanus-Buchhandlung in der Waldstraße. Merkwürdig, wie sehr man sich für eine Werbebroschüre begeistern kann. Aber ich liebte die RoRoRo-Panther-Reihe. Das waren legendäre Bücher, mit New-Wave-Cover, und billig waren die, das Taschengeld reichte für zwei im Monat. In der Reihe erschienen viele Anthologien, in denen wirklich aktuelle und spannende Geschichten und Gedichte publiziert wurden, über Sachen, die mich betrafen; vermutlich waren diese Anthologien auch meine erste Begegnung mit zeitgenössischer Lyrik. Ich habe sie geliebt. Und deshalb musste ich am Ende des Quartals in die Buchhandlung laufen, um die "Rowohlt-Revue" zu holen.

Heute stehen natürlich kaum mehr interessante Neuerscheinungen drin. Um als angehender Schriftsteller aufzuwachsen, waren die 80er Jahre günstiger. (Allein die weiße Heyne-Lyrik-Reihe, wenn ich nur dran denke, wird mir ganz schwummerig). Die Rororo-Panther-Bände sind mit die einzigen Bücher, die ich aus meiner Jugend aufbewahrt habe, sie stehen alle noch im Flur, und ab und an lese ich wieder in der einen oder anderen Anthologie.

Sonntag, 20. Mai 2012

 
Nicolas Berggruen ist ein Zen-Kapitalist.

Sein Jet breitet seine Gedanken in den Himmeln über den Großstädten aus. Aber natürlich werden die Gedanken durchsichtig, während sie flirrend durch den Himmel hinab sinken.
Berggruen hat Geld, zahlenweise Geld, ich habe keins. Seit das Arbeitsamt die Miete gekürzt hat - denn ich lebe zu luxeriös in einer zu großen Wohnung - bleiben mir den Monat über knapp 200 Euro für Bücher, Essen, Trinken und Eintritt für Dichterlesungen. Aber mit vielen Kartoffelgerichten und ständigem Geschnorre geht es schon. Ja, danke der Nachfrage, es geht schon.

Aber ich könnte dem Zen-Kapitalisten Nicolas Berggruen einen Brief schreiben; natürlich nicht ihm, sondern seinem Vorzimmer, seinem Bodenpersonal, denn wie sollte der Brief seinen Jet erreichen? Es wäre ja kein Air mail special, sondern nur ein dünner Briefumschlag, der für 55 Cent von der deutschen Post befördert werden würde.
In dem Brief wäre ein gefaltetes Blatt, und auf dem Blatt würde NICHTS stehen. Es wäre ein Zen-Brief.
Aber natürlich könnte ich mich nicht unterstehen, ein Postskriptum anzuhängen:

Lieber Nicolas Berggruen,
wären sie so lieb, und könnten mich unter all ihren Bittstellern heraus picken. Könnten sie meine Arbeit fördern? Ich bin nämlich so arm, und ich habe nämlich so viel Arbeit zu tun.
Ich brauche ja gar keinen Jet, ich brauche nur eine Kammer und ein Essen und eine Flasche Wein (es muss kein teurer sein). Und natürlich die Extra-Miete, die mir das Jobcenter nicht zu zahlen gewillt ist.
Und sie könnten mich ab und zu an einen warmen Ort mitnehmen, wenn es Winter und dunkel ist in Berlin, damit ich dort noch mehr arbeiten kann, an einem lauen Abend in Port de Soller (es müssen ja nicht die Malediven sein, schon gar nicht die Südsee, ich heiße ja nicht Paul Gauguin).
Mit den allerbesten Grüßen Florian Voß

Oder endet man lieber mit "Vorzüglicher Hochachtung" (so unterschrieb mein Vater immer die Entschuldigungsschreiben an die Schule, wenn ich mit Mandelentzündung im Bett lag. Von draußen flockte ein trüb graues Licht in die Schlafkammer, und die Fieberträume bauten Berge von Schnee an den Hügeln des Landes Schizophrenien auf). Vielleicht aber sollte ich grüßen mit den Worten "Ihr unterthänigster Diener Florian Voß". Oder: "Ich lege mein Schicksal in eure Hände, Dominus".

Ach nein, ich lasse es besser; ich habe auch gar keine Briefmarken zur Hand, und das Geld ist ja knapp (die Monatshälfte überschritten).
Stattdessen sollte ich einen kleinen Tempel aus LEGO bauen, für Maecenas, der Vertraute des Kaisers Augustus, nach dessen Namen der Begriff geprägt wurde, und der dem Dichter Horaz einst ein Landgut schenkte, auf das er dort gut dichten könne.

Ich sitze lieber im Garten und lese Bücher (wobei auch der Bücheretat für den Monat wieder vollständig ausgeschöpft ist, obwohl ich kaum fünf - gebrauchte - Bücher gekauft habe, und zehn Hefte der Reihe "Poesiealbum", die ich für 80 Cent pro Stück in einem kleinen Antiquariat fand).
Ich sitze also im Garten unseres Mietshaus (diese Privileg habe ich, auch wenn es vom Jobcenter nur zum Teil bezahlt wird) und lese den Roman "Raumlicht" von Ernst Augustin. Ich hatte unlängst ein Interview mit dem Autor - der zwischenzeitlich greis und blind ist - in einem "Psychologie Heute"-Heft gelesen (ausgeliehen aus der Bücherei; Zeitschriften sind zu teuer für mich). Den Namen hatte ich zuvor noch nicht gehört, aber das Gespräch las sich interessant, und da ich zur Zeit in meinem neuen Roman "WERMUT" auch Themen der Psyche und Persönlichkeit (vor allem des ICH-Verlusts) behandele, bestellte ich mir bei Booklooker seinen Roman über eine Schizophrene Frau, Evelyne B. (1,25 Euro inklusive Versand; Bücher sind nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden).

Ein faszinierender Text, ein Ritt durch die Gedanken, umschwirrt von Eindrücken, die die Welt auf den Ich-Erzähler macht, einem Psychoanalytiker. So fern von der schriftstellerischen Konvention der 70er Jahre wie auch der Jetztzeit. Wobei: letztendlich entfernter von der Konvention des Jetzt; kaum denkbar, dass so ein Roman heute noch in einem großen Haus wie Suhrkamp verlegt werden würde, dass die Kritiker von ZEIT und FAZ darüber schrieben, und vor allem kaum denkbar, dass so ein Buch sich heute im ersten Jahr nach Drucklegung mehr als 5000 Mal verkaufen würde.

Heute würden die Lektoren (die Liktoren des Literaturbetriebs) sagen: Das! Können! Wir! Nicht! Verkaufen!
Und damit wäre die Sache vom Tisch. Und Mäzene, die dann herbei- und einspringen, die gibt es schon lange nicht mehr. Ich jedenfalls kenne keinen, aber ich kenne ja auch niemand, der einen Privat-Jet sein Eigen nennt.

(Vielleicht googelt er mich ja irgendwann einmal, der Nicolas Berggruen, auf seinem ultra-slimen Notebook, während er aus der Sichtluke seines Jets schaut. Vielleicht schickt er ja dann einen rettenden Boten).

Samstag, 26. Mai 2012

 
Wenn es einen Ort gibt, an dem ich glücklich war, dann im Wintergarten meiner Großeltern. Ich saß dort in einem Korbstuhl als ich ein Kind war, ich schaute hinaus auf die mit Sonnenschein überschüttete Straße – die Stephensonstraat 3 in Den Haag – auf der manchmal ein blinder Mann mit einem weißen Stock vorbei kam. Den hatte ich eines Tages kennen gelernt, als ich auf der Straße spielte. Wir hatten uns auf die Freitreppe eines der mit glasierten Klinkern gebauten Häusern gesetzt, und ich hatte ihn interessiert nach seinem langen, weißen Blindenstock gefragt, und er hatte ihn mir vorgeführt, gezeigt, wie man ihn an einem halben Dutzend Gelenke zusammen falten konnte. Er hatte eine dunkle Brille und war vielleicht dreißig Jahre alt. Ich glaube, er hatte schwarzes Haar und einen hellen Anzug, obwohl es Sommer war und sehr heiß. Ich lief in Nietenhosen und meinem Stars-and-Stripes-T-Shirt durch die Ferien; an der Straßenecke stand ein Haus mit einem kleinen Turm, aus dem eine Glocke läutete, so dachte ich jedenfalls, aber vermutlich kam das tiefe, ruhige und warme Glockengeläut von einer Kirche am Hauptplatz des Viertels – Duinoord, ein Quartier das nur aus Sonne zu bestehen schien.
An der Eingangstür des Hauses wuchs ein Passionsblumenstrauch, auf den meine Großmutter sehr stolz war, und im Flur war es kühl, und die Bodenkacheln machten porzellanhelle Töne, wenn man über sie schritt.
Der Wintergarten lag hinter dem Klavierzimmer, in dem ein weiß lackiertes Klavier stand, auf dem niemand mehr spielte außer mir. Ich klimperte Katzenmusik auf den schwarzen Tasten, und von oben, vom Klavierdeckel her, glotzte mich eine Skulptur an, die mein Großvater gemacht hatte. Neben dem Klavier stand ein chinesisches Tischchen aus durchwirktem Ebenholz, darauf staubten Messinggerätschaften ein. Und dahinter war der Durchgang zum Wintergarten, in dem Bücher in einem Regal langsam ausblichen von den Sonnenstrahlen. Eine dunkelgrüne Kommode stand dort, in der alte Tischdecken aufbewahrt wurden und Spielzeug für die Enkel. Es gab eine Matchbox-Müllabfuhr, eines der wenigen Dinge, die ich heute noch aus meiner Kindheit besitze. Dieses Matchbox-Auto roch ganz phantastisch nach Metall. Jetzt riecht es nach nichts mehr, was vermutlich dem altersbedingten Absterben der Sinne geschuldet ist.
Vor dem Wintergarten war ein winzig kleiner Vorgarten zur Straße hin, ausgelegt mit geharkten Kieseln. Am Rande lagen zwei oder drei Steinplatten aus Waschbeton, unter denen Kellerasseln wohnten, die ich stundenlang beobachten konnte, und die ich meistens auf die Hand nahm, mit einem leichten Gefühl von Ekel, und mit einem leichten Gefühl von Faszination.
 
Und immer saß ich in diesem Korbstuhl, fernab der Erwachsenenwelt, und las Comics und lutschte Lakritzpastillen. Oder schüttete mir ein Salmiakpulver in den Mund, dass man beim Kaufmann an der Ecke bekommen konnte (ein kühler, schattiger Kaufmannsladen, der auch Sahneeis und Zauberbonbons führte, die beim Lutschen ihre Farben wechselten).
Ich musste heute daran denken, als ich mir das neue Einkaufzentrum auf der Schlossstraße anschaute. Dort gab es ein Schnick-Schnack-Geschäft mit Namen „Xenos“. Eine holländische Firma. Ich wollte dort nur einen Mülleimer kaufen, aber kurz vor der Kasse war ein Regal mit Süßigkeiten aufgebaut, holländischen Süßigkeiten, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte: Pfefferminzbonbons, Salmiakpastillen, Süßholzdragees!
 
Leider gibt es diesen Wintergarten nicht mehr, oder vielmehr gibt es ihn noch als Ort, aber er gehört jetzt anderen Menschen, denn die Großeltern sind lange schon tot, er ist jetzt blitzblank und durchlässig, und nicht mehr abgeschieden von der Erwachsenenwelt. Auch habe ich dort keinen Korbstuhl gesehen, als ich vor einigen Jahren noch einmal in der Stephensonstraat war.
Es ist eine teure Ecke geworden, die Häuser setzen keinen Staub und keine Flechten mehr an. Es wohnen dort nun Leute, die es sich leisten können.
 
Nachdem ich das letzte Mal die Stephensonstraat verlassen hatte, ging ich zur Trambahn-Haltestelle und wartete im Sonnenschein. Ich schaute über die Brüstung der Brücke, auf der die Haltestelle lag, zu den Hausbooten hin, die ich schon als Kind geliebt hatte, auf die steinerne Skulptur einer Mutter mit ihren steinernen Kindern, die die Mitte der Brüstung zierte, und von der meine Großmutter immer erzählt hatte, das wäre sie mit meiner Mutter und meiner Tante; und um mich herum versank die Welt und wurde gleichzeitig ganz klar und durchlässig. Auch ich wurde durchlässig in diesen Minuten bevor die Tram eintraf. Alles brannte sich ein, wurde zu einer Erinnerung, wie man sie so unmittelbar nur aus der Kindheit kennt.
Schon als ich drei, vier Jahre alt war, hatte ich an dieser Haltestelle gestanden, und mir die unschätzbar vielen Fahrkarten aus dickem, braunen Karton angeschaut, die im Gleisbett lagen, zwischen noch mehr Zigarettenkippen. Fahrkarten aus holziger Pappe, mit einem schmalen, roten Streifen quer durch die Mitte, und mit Entwertungsstempel an der Seite.
 
Wie echt die Erinnerung wirkt, wie nah. Aber es sieht dort alles anders aus jetzt, zwar nicht so anders wie an einer beliebigen Ecke von Berlin, es sind dort die Einzelheiten noch zu erkennen, bis vor wenigen Jahren gab es sogar den Korbstuhlladen im Souterrain an der Ecke, selbst die winzige Tankstelle mit den zwei Tanksäulen auf dem Fußgängersteig habe ich noch im erwachsenen Alter gesehen, aber trotzdem hat sich alles gewandelt. Zudem war ich nicht mehr dort, seit meine Mutter vor sechs Jahren starb, meine alte Mutter, die ihre letzte Zeit wieder in der Heimat verbrachte, nach Jahrzehnten der Grammatikfehler im Land meiner Geburt. Das ist keine Heimat mehr, aber manchmal denke ich, wenn ich sterben müsste, dann vielleicht doch im Wintergarten in der Stephensonstraat 3.
 
Von der Haltestelle aus konnte man den Weg zum Meer einschlagen, am Kanal mit den Hausbooten entlang, der Sonne entgegen, vorbei an einer pop-art-bunt bemalten Riesenskulptur, der ich immer aus dem Ford Taunus meines Vaters zuwinkte. Vorbei an einem Karatestudio in einem leicht runtergekommen Haus, in dem mein Onkel trainiert hatte bevor ich geboren wurde, immer weiter den Kanal entlang, bis man nach Scheveningen kam, über die Dünen stapfte (nachdem man an einem Wasserspender getrunken hatte, der zwischen Parkplatz und Dünenweg stand), und endlich die See sah, die Wellenbrecher aus schwarzen, glänzenden Steinen.
 
Ich habe vor einigen Jahren eine Serie von Viewmaster-Scheiben bei Ebay ersteigert, 3-D-Dias, die man mit einem grauen Bildbetrachter anschaute. Photographien von Scheveningen in den späten 60ern. Es war, als schaute ich in mein Gehirn, in den Bildspeicher meines Gedächtnis. Ich wäre so gerne in das Bild hinein gesprungen, auf den glühenden Sand des Strandes, hin zu der Bude, in der es Fritten mit Erdnusssoße und gesalzene Chips gab (in Deutschland zu der Zeit eine Rarietät, dort kannte man nur Paprika).
 
Ich vermisse den Strand, die gebackenen Muscheln am Hafen, die glühende Haut am Abend, wenn ich nach dem Essen, in der Dämmerung, mich in den Korbstuhl setzte. Ich vermisse so sehr diesen Wintergarten meiner Großeltern. Und meine Großeltern vermisse ich. Und meine Eltern. Und mich.

Montag, 28. Mai 2012

 
Die Gedanken eines ganzen Tages aufzuschreiben, auch die Eindrücke, angefangen mit den optischen Sensationen einer moosbewachsenen Mauern, bis hin zu den Falten der Menschen, die mir auf den Straßen entgegen liefen; jede Gefühlsregung, von dem unkonkreten Dunst des erwachenden Ichs am Morgen, bis hin zu dem unwesentlichen Panikanfall am Seeufer, weil ein leichter aber unmittelbarer Schmerz vom Solarplexus aus die untersten Rippen entlang fuhr; jeden noch so kleinsten Gedanken – zum Beispiel den, dass Christoph Schlingensief bald vergessen sein wird, vergessener noch als die zahllosen Schriftsteller, deren vergilbte und angeschlagenen Bücher man in den Grabbelkisten der Flohmärkte finden kann (habe ich diesen Namen schon einmal gelesen? A.J. Cronin? Ach, ja, der stand bei meiner Mutter im Bücherregal, in den siebziger Jahren, und ich habe demletzt auch wieder seinen Namen gelesen, in der Bestsellerliste eines Spiegel-Heftes, das mir zusammen mit anderen von einer Nachbarin geschenkt wurde, weil sie wusste, dass ich diese Hefte gerne zur Recherche für meinen Roman nutze; sie hatte sie auf dem Speicher ihres verstorbenen Vaters gefunden, so sagte sie, aber die Hefte stanken alle nach dem Moder eines Kellers, und so lagere ich sie seither auf dem Balkon, blättere ab und an eines durch, staune über die Jugendbildnisse so manchen Schriftstellers, lese die Bestsellerliste und stelle fest, dass auch vor dreißig, vierzig Jahren vor allem Schund gekauft wurde, sitze auf dem Balkon, trinke ein Glas Wein, rauche eine Zigarette und denke nach, versuche das Denken zu beobachten, nehme mir vor, später am Schreibtisch diesen Gedanken noch einmal nachzuhängen, denke an all die Einzelheiten, die Sensationen des Tages, vergesse sie wieder, schlage das Heft zu), will also die Gedanken eines einzigen Tages aufschreiben, zum Beispiel, dass mir wieder der Tod durch den Kopf gegangen ist (nein, nicht dass ich an den Tod gedacht habe, sondern dass er mir durch den Kopf gegangen ist, mit seinen schweren Stiefeln, in dem Moment, als mich dieser fremde Schmerz anfiel, der vom Solarplexus aus... und die Panik, eine leichte Panik nur, die ich schon so genau kenne, wie einen alten Freund, ohne dass wir je Freunde geworden wären, die Panik und ich, die einfach nur mein strenger Begleiter ist), all diese Gedanken also fassen zu können, das wäre ein Kunstwerk, das wäre Leben.
Stattdessen hechele ich ihnen hinterher, ein dünner ausgetrockneter Hund, auf den Pfaden, auf den Fäden der Zeit, der Nornen. Ich spinne ja nur, und wickele doch nur die Gedanken des Momentes auf, der jetzt, ich weiß es ja schon, vorbei ist, und nur eine Spur, eine Fährte von Pan hinterlässt.
 
Dabei war der Tag sehr schon, wenn auch der Körper die meiste Zeit nicht fröhlich sein wollte, der Geist war es schon, als ich mit meiner Familie am Schlachtensee war, meinen Sohn beobachtete, der in einer kleinen, kühlen Bucht baden ging, mit seiner Schaufel Schlick aus dem Wasser schippte, dessen Schwimmflügel orangefarben leuchteten vor dem glitzernden Wasser des Sees, auf dem die Ruderboote entlang trieben, oder mit in die Wasseroberfläche einschneidenden Rudern voran getrieben wurden (die aufstiebenden Wassertropfen, die Sonne halb hinter den Wolken, das andere Ufer mit den winzigen Badegästen). Was dachte ich da? Ich habe es schon wieder vergessen, in Erinnerung bleibt mir immer nur das Bild, manchmal auch Geräusche, niemals aber was in meinem Kopf vor sich hin redete. Vielleicht dachte ich ja nichts, vielleicht war ich ja glücklich?
Später dann, kurz nach der Mittagszeit (und wo hört der Mittag auf, fängt der Nachmittag an? – Darüber dachte ich gestern nach, schaute auch im Internet nach, doch nicht einmal Wikipedea konnte mir präzise Auskunft geben), gegen 14 Uhr also gingen wir zum Bootshaus und liehen uns ein Ruderboot (No. 35 für 4 Personen, so stand es auf dem Bug). Und dann ruderte ich hinaus, ließ die Ruder in die Wasseroberfläche schnellen, betrachtete die stiebenden Wassertropfen, schaute die Beine meiner Frau an, die vor mir saß, neben sich das Kind, das die kleine Hand durchs Wasser gleiten ließ, wie ich es auch gemacht hatte, als ich ein Kind war, und als mein Vater gerudert hatte (ist es wirklich mein Vater gewesen? Ist das eine falsche Erinnerung? – Ich weiß, dass ich die Hand durchs Wasser gleiten, und ich nehme an, dass es mein Vater war, der die Wassertropfen aufstieben ließ, aber sicher bin ich mir nicht).
Ich fühlte mich leicht, kein Schmerz mehr, keine Beunruhigung, nur ein Gleiten durch das Wasser, vorbei an anderen Ruderbooten mit lachenden Menschen, ab und an die Köpfe einiger Schwimmer, die ein bisschen wie die Köpfe in dem Stahlstich von Doré aussahen; der Stich, der die Eisfläche der Hölle zeigt, mit den eingefrorenen Menschen, deren Köpfe über das Eisschild hinausragen. Die Hölle also, in meinen Gedanken, aber gezähmt durch Kunst, und hier draußen ist der See, das Boot, meine Familie, die Sonne. Kaum ein Gedanke. Ich zeige auf die Uferböschung, auf die kleine Bucht, in der jetzt andere Kinder baden, und sage:
„Schau mal, Tristan, da waren wir vorhin“. Und Tristan schaut zweifelnd und sagt: „Wo?“
Und ich strecke die Hand, den Zeigefinger zur Bucht hin und sage „Da. Dort sind wir gewesen.“
Und sage zu mir, denke mir, lasse es in mir denken: Dort sind wir gewesen, dort habe ich etwas gedacht, aber jetzt nicht mehr, jetzt bin ich hier und denke etwas anderes, aber auch das kann ich nicht mehr erinnern, denn jetzt sitze ich hier, an meinem Sekretär aus den sechziger Jahren (einen ähnlichen hatte ich schon einmal, in den Achtzigern, und auch an ihm habe ich gerne geschrieben), sitze hier und schreibe, denke schon wieder mich fort aus meinen Gedanken.
 
Die Erinnerung ist das einzige was wir haben, das einzige was andauert. (Und natürlich habe ich auf dem See zuerst an die Bilder von Monet und Renoir gedacht, die sie malten im späten 19ten Jahrhundert, als sie, die Freunde, zusammen mit ihren Frauen – und vielleicht auch mit ihren Kindern – einen Ausflug machten, zu einem See; dort eine Bootsfahrt unternahmen, später sich und die Boote malten – ein glücklicher Tag. Heute sind die Bilder getrennt, hängen in verschiedenen Museen, waren aber wohl einmal in einer Ausstellung wieder Seite an Seite gehängt. – Und auch Renoir und Monet schon lange tot, aber immerhin nicht vergessen, wenn auch niemand mehr den Klang ihrer Stimmen beschreiben könnte, die Farbe ihrer Augen, die Wege und Pfade ihrer Gedanken).
 
Und leichten Heuschnupfen hatte ich auch. Und das Rumpeln der S-Bahn-Räder war zu hören. Und eine blau schimmernde Libelle schwebte über dem Wasser, ein winzig kleiner Polizeihubschrauber.

Mittwoch, 6. Juni 2012

 
(Den ganzen Tag an der Georg-Heym-Anthologie gesessen, die wirklich gut wird und sich vermutlich, leider, leider, wie andere Anthologien mit Gedichten - so sie nicht den Herbst oder das Meer thematisieren - mehr als schlecht verkaufen wird. Aber wir werden sehen).

Wenn man den Namen Nicolas Berggruen bei Google eingibt, findet man meinen Blog bereits auf Seite Drei. Unfassbar, dabei wird doch nicht gerade wenig über den Mann berichtet.
Seite Drei also; vielleicht liest er den Eintrag ja doch irgendwann einmal und schickt einen rettenden Boten, mit einem Scheck über 50.000 Golddukaten, unterschrieben von ihm, von Nicolas Berggruen (ich muss diesen Namen nur häufig genug schreiben, damit die Verbotene Zone noch weiter nach oben rutscht im Page-ranking; und eines Tages...)
Eines Tages dann, sitzt Nicolas Bergruen in seinem Privatjet, sein Notebook auf den Knien - ein speziell für ihn angefertigtes Notebook, mit E-Ink-Bildschirm und rot schimmernder Tastatur - und googelt wieder einmal seinen eigenen Namen: Nicolas Berggruen.
Er macht das bestimmt täglich, denn er wird doch wohl eitel genug sein, der hübsche Zen-Kapitalist.

In meinen Träumen bin ich schon bei ihm gewesen, in seiner Gulfstream IV, und er hat mich herzlich begrüßt, ein Glas mit Bionade gereicht (Hollunder mit in der Flüßigkeit schwebendem Goldstaub), und dann führte er mich durch sein Reich über den Wolken:

Gleich vorne, hinter dem Durchgang zum Cockpit und dem Aufenthaltsraum der Besatzung (weiteres Personal war nicht zu bemerken, Berggruen schien keinen großen Wert auf unnötigen Luxus zu legen), öffnete sich der Salon, in dem seidenbestickte Kissen sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Auf dem Tisch standen zwei riesige Wasserpfeifen, und von der Kabinendecke hingen sowohl samtne Tröddeln, als auch Sauerstoffmasken, in die jemand stark duftende Orchideen gesteckt hatte.
Mehrere große E-Book-Monitore hingen zwischen den Sichtluken, durch die orange getönt die Sonne herein schien, und dem Salon eine heitere Atmosphäre verlieh. Winzige, leicht bekleidete Elfen tanzten zwischen den Sonnenstrahlen, und Nicolas Berggruen verriet mir all ihre Namen.

Seine Schlafgemächer zeigte er mir leider nicht, das wäre wohl zu intim gewesen, aber hinter dem Wohnbereich war eine kleine Sternwarte in den Flugzeugrumpf integriert, ein schwenkbares 8-Zoll-Fernrohr, mit dem er, so erklärte er es mir, in den einsamen Nächten die Venus observierte, oder den Mars.

Im hinteren Teil gab es das Badezimmer, in dem ein Plexiglasboden eingelassen war, und in dem wiederum eine durchsichtige Wanne. Er lud mich ein, ein kurzes Bad zu nehmen, was ich auch tat, und zwischen meinen Beinen konnte ich die Wolkendecke sehen, die an einigen Stellen aufgerissen war und den Blick freigab auf eine winzige Welt aus grünen und braunen Flecken, ein Erd-Mandala.
Wenn die Menschen unten auf den Dächern (auf denen sie krumm und windzerzaust standen, wie die Sterndeuter), wenn sie also Teleskope gehabt hätten (so wie wir hier oben), wäre es ihnen möglich gewesen, meinen Arsch zu sehen, hinter dem Plexiglas der Wanne.

Nach dem erfrischenden Bad (das Wasser war mit Gänseblümchen-Öl aromatisiert gewesen), führte mich Nicolas Berggruen in das Heck der Maschine. Dort waren zwei würfelförmige, kaum drei kubikmeter große Kammern eingelassen, in denen er, so sagte es mir Nicolas Berggruen, meditieren würde, über die Welt und über den Kapitalismus (und manchmal auch über Gedichte und über die armen, verarmten Dichter). Die eine Box war vollständig mit Spiegeln ausgekleidet, so dass man sich selbst dort verfielfacht sah, die andere mit schwarzem Samt ausgeschlagen, so dass man sich dort verfielfacht wahrnahm. Nur das entfernte Heulen der Düsenmotoren störte ein wenig die Konzentration, aber Berggruen versicherte, das würde er wegmeditieren.

Natürlich erwachte ich, bevor ich mich verabschieden konnte, und rannte sofort zum Briefkasten hin, um nach der Depesche des rettenden Boten zu schauen. Aber da war nichts, nur Rechnungen und eine Aufforderung vom Jobcenter, mich zur Verfügung zu stellen. Enttäuschend. Wirklich enttäuschend, Herr Nicolas Berggruen.

Freitag, 8. Juni 2012

 
Ich las gerade einen tiefgründigen, geradezu erhellenden Artikel über die Midlife crisis . . . im Spiegel!
Der Artikel war ausführlich, gut geschrieben, auch mit Zitaten aus der wissenschaftlichen und belletristischen Literatur angereichert. Das war eine Art von Journalismus, die meinen Kopf zum Denken brachte. Hoppla, der Spiegel bringt mich zum denken, wie ist das möglich? Sogar ein Stahlstich von Gustave Doré zu Dantes Inferno war dem Artikel beigegeben, und am Rand stand eine Reklame für das neueste Princess-Coupé der Automarke Leyland . . . ach ja, ich hatte ein Spiegelheft vom 19. Juli 1976 in der Hand.
Wo ist das alles hin? Der gute Journalismus, der einen zum Nachdenken bringt? - Weg ist er; und erzählt mir nicht, dass dieser Eindruck meiner Midlife crisis geschuldet ist.
Ein paar Seiten weiter konnte ich in der Spiegel-Bestsellerliste lesen, dass Max Frischs "Montauk" auf Platz 5 stand. Montauk! Ein großes Werk der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, vermutlich Frischs bestes Buch! Auf Platz 5! Kein übler Trash auf Platz 5, sondern Weltliteratur. Unfassbar! - Wo ist das hin? Wieso steh ich am 7. Juni 2012 nicht auf Platz 5 der Spiegel-Bestsellerliste?
Und ganz hinten das Totenregister. Wer da alles so gestorben ist, Berühmtheiten! Kennt heute kein Mensch mehr. Staub. (We come with the dust, and we gone with the wind).

In diesem Heft fand ich auch eine erbsgrüne Anzeige für einen elektrischen Fondue-Topf von Siemens. Fondue war damals so eine Modeerscheinung. Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter zweimal im Jahr in der Küche den ganzen Nachmittag lang Dips zusammen rührte, mit Knoblauch, mit Sahne, mit Sherry. Und am Abend saß die abgezählte Familie um den Fondue-Topf ("Pass auf, da ist heißes Öl drin"), und ich stippte die Schweine- und Kuhstückchen in das wie Hölle brodelnde Öl.
Dazu wurden gereicht: in Würfel geschnittenes Weißbrot und kleine Flaschen Lift ("Limonade mit der Löschkraft der Zitrone"). Ein Fest in den späten 70ern. Nie wieder werde ich so leckeres Fleisch essen. Nie wieder werde ich meine Eltern sehen. Das Rezept für die Sherry-Soße hat meine Mutter mit ins nasse, grüne Grab genommen. Der Fondue-Topf überdauerte ihren Tod, kam aber irgendwann abhanden. Vielleicht steht er noch auf dem zugigen Speicher des Landhauses meines Bruders, auf dem auch ihr Neo-Barocker Schminktisch in einer Ecke hockt. Fliederfarben lackiert.
 
(Und immer wieder die Botschaft: "Pfeifenraucher sind interessant und haben Erfolg").

Sonntag, 10. Juni 2012

 
Ein Sonntag: die Kutscher trinken ihr Bier mit Orangenlikör im Schatten der Kirche. Ihre Augäpfel ganz weiß, ihre Haare dunkle Wälder aus schweren Gedanken.
Nein, so ist es nicht, keine Kutscher mehr in den Straßen von Friedenau, nur eine Ahnung, die aus den Gaslaternen strömt – die auch schon seit Jahrzehnten abmontiert sind, hier im Kiez.
 
Ich sitze im Garten mit einem Manuskript auf den Knien – die Anthologie zum 100sten Todesjahr von Georg Heym, die morgen früh in den Satz geht – und die Kirchenglocken läuten um die Mittagszeit vom Grazer Platz her.
Es gibt kaum etwas, was mich so sehr beruhigt, wie Kirchenglocken am Sonntag, kein Kirmesschlager könnte mir diese Gelassenheit einsingen. Die Hummeln summen, die Sonne bricht ab und an durch die schweren Wolken, die heute ganz leicht aussehen, auch wenn ihre dunklen Ränder dräuen (Heym hat mir ein bisschen die Sprache infiziert an diesem Tage). Stunden sitz ich über dem Manuskript und korrigiere die Texte, und jede Stunde schlägt die Glocke.
Schade nur, dass sie nicht mehr die Viertelstunden anzeigt. Ich kann mich erinnern, dass sie das tat, als ich durch Lüneburg streunte, in den 70er Jahren. Verschattete Männer mit schmalkrempigen Hüten in der Fußgängerzone hinter dem elterlichen Haus, Damen mit matten Wildledermänteln, unter deren Säume die Miniröcke hervor blitzten, Motorradrocker auf Kreidler-Mopeds. Und Kinderbanden, die dazwischen durch flitzten. Ich mittendrin vor der Eisdiele Fontanella (ob die Babys dieser Familie halbgeöffnete Schädel hatten?), in der es Spaghettieis gab, das unfassbare fünf Mark den Becher kostete, und das ich nur ein einziges Mal aß, eingeladen von der Referendarin meiner Grundschule (oder war es eine andere junge Frau mit blumenbestickter Bluse?). Aber die Kugel ordinären Eises war billig; 30 Pfennige für eine Portion Haselnuss, Blaubeere, Malaga oder Straciatella.
Und die Kirchenglocken vom Sande schlugen nicht nur jede Stunde tief wie ein Herbstschatten, sondern auch hell jede viertel Stunde.
Am Sonntag morgen lag ich zwischen meinem Eltern im Bett und sog den Geruch der Laken ein (vermutlich eine Mischung aus „Omo“ und Erinnerung), versank in den Kissen, schmiegte mich an meine Mutter und hörte durch das gekippte Fenster das Glockengeläut, dass über den moosüberwachsenen Hinterhof, über die alten, schrundigen Dächer, durch die schmalen Gassen und Straßen schallte. Von Sankt Johanni her, der gotischen Kirche am mittelalterlichen Platz, der schon immer „Am Sande“ gehießen hatte.
(Wann hat das aufgehört, dass die Viertelstunden geschlagen wurden?)
Und jetzt also im Garten mit Georg Heym, der alten Wasserleiche, den ich schon als Kind las, in einem winzigen Bändchen, das in dem Bücherregal meiner Mutter stand, neben einem winzigen Bändchen von Trakl. Und am Abend wurden mir Kindergedichte von Morgenstern vorgelesen; es konnte aus mir gar nichts anderes werden.
 
Nachdem ich das Manuskript Korrektur gelesen habe, schaue ich im Kühlschrank nach Abendessen, das leider nicht mehr vorhanden ist. Also schwinge ich mich auf mein Fahrrad (das ich im Winter für 27 Euro bei ebay ersteigerte) und fahre zum LIDL-Markt am Innsbrucker Platz. Es ist noch nicht ganz Abend geworden, aber ich muss trotzdem an Tom Schulz denken.
Dieser Lidl hat immer geöffnet, jeden Sonntag, jeden Abend. Und dieser Lidl ist Antiprovinz, ein Fest für den Sozialvoyeur. Es gibt nicht noch einmal einen so überfüllten Supermarkt in Berlin. (Vielleicht nur den im S-Bahnhof Friedrichstraße.)
Der Boden klebt, es wanken die Gestalten zwischen dem Wein und den Gurken. Alle Herkunftsländer der Berliner Bevölkerung scheinen dort Agenten zu haben, und der Wachmann am Eingang wechselt täglich. Die Kassiererinnen können nur mit Valium durchhalten, damit sie nicht austicken und den Kunden schwere Waren um den Kopf hauen.
Die Kassiererinnen dort sind immer gut drauf, wenn ich an der Kasse stehe (ich würde innerhalb von fünf Minuten ausrasten, wäre ich in ihrer Position), und sie lachen und machen kleine Scherze mit den Gästen der Unterwelt. Eine wirft den Kassenschlüssel zur anderen, die eine Storno hat; die fängt den Schlüssel mit unbewusster Eleganz. Und draußen hocken die Penner und bitten um ein Bier.
Was für ein Unterschied zu dem gesitteten Penny-Markt meiner Kindheit – dem ersten Discounter, den ich besuchte. Auch daran kann mich erinnern: Mein Vater nahm mich und meinen Bruder dorthin mit. Wir kauften Nussschinken und Karamellbonbons (vielleicht war das auch in einem anderen Laden). Und wir waren überwältigt von der Größe und Vielfalt des Ladens und der Auswahl. Wir kannten bis dato nur das Kaufhaus in der Fußgängerzone, wir hätten nicht gedacht, dass der Kapitalismus auch in aufgeschnittenen Kartons wohnen kann. Kartons voll von Tüten mit Karamellbonbonds.
 
Mein Vater aß so gerne, vermutlich sogar noch lieber, als dass er trank. Allerdings hat ihn nicht das Essen umgebracht. Das Essen war das Letzte, was er noch genoss, als seine verkrebste Leber schon in seinen Körper ausflockte (ich musste damals an die Hähnchen denken, die ich mit ihm zusammen aus der Tiefkühltruhe hervor gegraben hatte, und in deren kalten Leibern die Leber, das Herz und die Nieren versteckt waren, in ein kleines Plastiktütchen gedrückt).
Als mein Vater schon fast im Sterben lag, sich kaum noch von Bett zu Tisch und von Tisch zu Stuhl hangeln konnte, lud er meinen Bruder und mich zum Spargelessen ein. Es war sein letzter Frühling, und ich kam eine Stunde früher, um die Kartoffeln zu schälen (die alle grün und giftig aussahen). Er mühte sich redlich, den Spargel zu schälen und das Kochwasser für die Kartoffeln aufzusetzen, aber es gelang ihm nur noch unzureichend.
Am Esstisch später (der jetzt bei meinem Bruder steht) saß er ruhig mit unruhigen Augen, und seine Söhne und deren Frauen lobten den Spargel. Und alle tranken viel Wein, bis auf den Vater, dessen Leber schrumpfte.
Ich weiß nicht, ob die Kirchenglocken läuteten, ihren Schall durch die gekippten Fenster gossen wie schweren, hellen Wein. Und wenn sie es denn taten, die Viertelstunden zeigten sie schon lange nicht mehr an.

Dienstag, 12. Juni 2012

 
Nachdem ich gestern Morgen die letzten Korrekturen am Manuskript der Georg-Heym-Anthologie angebracht hatte, schickte ich die Datei umgehend an den Verlag und wurde danach - wen wundert es - ohne Verzögerung krank. Und nun liege ich hier, mit einer kopfschweren Erkältung und kann mich auf kein Buch mehr konzentrieren, selbst der Spiegel oder die Morgenpost sind mir anstrengende Lektüre geworden. Ich hasse diese ewigen Erkältungen, die mich seit meiner Kindheit so eifrig verfolgen, und sicherlich vier- fünfmal im Jahr einholen.

Was ich allerdings mag: in viele Kissen gebettet sein, hingestreckt liegen mit geschlossenen Augen und halbgeschlossenen Rollläden, so dass nur noch wenig Licht über die herab gesenkten Lider huscht. Die zweiflügelige Balkontür steht geöffnet (um den Krankheitsgeruch zu vertreiben, den ich zwar, ob meiner geschwollenen Schleimhäute, nicht mehr riechen kann, den ich aber anderen nicht zumuten sollte)
. . . (Jetzt liege ich hier, mit Blick auf einen Bildband mit Römischer Kunst, auf den ich ein gefaltetes Papier gelegt habe, über das mein schwarzer Tintenstift kratzt, wie am Morgen Goethes Federkiel in dem gleichnamigen Film, der mir in halbem Fieber gut gefallen hat) . . . und ich lege mich wieder zurück, erinnere gleichzeitig, empfinde gleichzeitig. Sturm und Drang, Fieber und Wahn.
Es ist sehr angenehm, so im Halbschatten zu liegen und der Welt zu zuhören, dem Singen der Amseln, dem Zwitschern der Spatzen, dem Rauschen der entfernten Wagen am Grazer Damm, dem vorüber hallenden, nahen Dröhnen in der Straße, zu der sich hin die Balkontür öffnet.
Ab und an Satzfetzen einzelner Passanten-Paare, die mir unverständlich bleiben. Der Hall der Welt im Allgemeinen. (Und jetzt, wo ich dies am Schreibttisch abtippe, beginnt auch das Geläut der Kirche am Grazer Platz und macht mir diesen Nachmittag wieder zum Sonntag - dabei ist es nur das tägliche Abendläuten. Hat das eigentlich einen Namen, so wie das Angelusläuten zur Mittagszeit?)
Nunja, Hufgetrappel und Kutschenräderklappern wären mir lieber, durchmischt von Walzern Schuberts.

Dann fährt der Bus vorbei, wie alle zehn Minuten.
Und ich schaue auf die Bleistiftzeichnung die gegenüber meines Bettes hängt, eine Parklandschaft, gezeichnet 1865 von einem völlig unbekannten, heute namenslosen Künstler - in der linken unteren Ecke steht "Adolf Schmalzer" oder "Adolf Schwarzer". Das Blatt ist geknickt, die Ränder ausgefranst, aber ich liebe diese Arbeit, das Schlichte, unpompöse; ich hätte gerne noch andere Arbeiten des Zeichners. Aber mir ist ja der Name nicht geläufig, und dem Internet auch nicht.
Verblasst all sein Ruhm, wenn er denn jemals welchen hatte. (Aber ich gehe davon aus, denn die Zeichnung ist keine Laienarbeit, vielmehr ziemlich modern für das Jahr 1865). Ein letztes Blatt von tausend Stück.

Sonntag, 17. Juni 2012

 
Auf Wolken, ich lief auf Wolken. Und in mir floss der Sonnenschein durch alle meine dünnen Adern.
Ich war gerade dreizehn Jahre alt geworden, als ich zum ersten Mal Haschisch rauchte, in einem Treppenhaus, zusammen mit Joe und noch einem anderen Freund. Wir waren auf dem Weg zu einem Rollenspielabend, und wir waren sehr junge Kiffer.
Das war eine Zwischenzeit. Die Playmobilsammlung war verkauft (das Geld in einen Grundig-Radiorecorder angelegt, der noch heute neben meinem Bett steht, und mit dem ich zur Nacht ab und an Kulturradio oder den Deutschlandfunk höre), auch die Star-Wars-Figuren standen eingemottet im Schrank, aber ich spielte noch leidenschaftlich gerne Fantasy-Rollenspiele, vor allem das erste deutsche Spielsystem "Midgard" - lange Jahre lief ich in Gestalt eines Barden durch finstere Verliese, umringt von Ghouls und Drachen, auf der Suche nach Gold und Zaubertränken. Der Barde hieß Atrun, soweit ich mich entsinnen kann.
Die Ex-Wunderkinder um Joe (und mich) trafen sich auf dem Speicher seines großelterlichen Hauses, denn dort hatten wir Raum und Ruhe. Joe hatte aus Sperrmüll einen Hochsitz gebaut, der sicherlich fünf oder sechs Quadratmeter maß, und auf dem wir lagerten, hingestreckt auf alte, staubige Matratzen, überdacht von vergilbten Laken und Stoffen.
Dort spielten wir Haschen im virtuellen Mittelalter des "Schwarzen Auges" oder in der Vorzeit des "Dungeon and Dragons". Und kifften dabei. Und hörten Ougenweide.
Ougenweide hatte ich mitgebracht. In der Jugendbibliothek im Prinz-Max-Palais hatte ich sie entdeckt, dort gab es ein Regal mit Musikkassetten, die man nach Hause ausleihen konnte, im Gegensatz zu den Schallplatten, die nur vor Ort gehört werden durften, damit sie pfleglich behandelt wurden. Die ersten drei Kassetten, die ich auslieh, waren The Velvet Underground (der Bandname gefiel mir), Black Uhuru (mein großer Bruder hörte Punk und Reggae zu der Zeit) und eben das "Liederbuch" von Ougenweide, auch da weckte der Name meine Neugier.
Auf dieser Platte hörte ich zum ersten Mal ein Gedicht von Walter von der Vogelweide, durch diese Gruppe begriff ich zum ersten Mal, dass es auch Musik jenseits von Pop, Rock und Jazz gab. Was für eine Offenbarung: das Mittelalter schien sich ganz anders anzuhören (jedenfalls hielt ich mit dreizehn das, was ich dort hörte, für Musik des Mittelalters). Was ich damals noch nicht wusste war: auch die Musik auf dieser einen anderen Kassette, das Viola-Dröhnen der Velvet Underground ging zurück auf die Estampies der Trouveres. Erst mit Anfang zwanzig wurde mir die Traditionslinie klar - Conon de Béthune (und andere Trouveres des 13ten Jahrhunderts), Erik Satie, John Cage, La Monte Young, John Cale, The Velvet Underground!

Später, als ich mir auch das Kiffen abgewöhnt hatte, hörte ich die Orginale, die Ensembles, die die Musik des Mittelalters historisch informiert spielten. "Studio der frühen Musik", "Sequentia", "Hesperion XX" und viele andere. Aber noch immer höre ich ab und an gerne die Musik von Ougenweide. Und eines der liebsten Stücke war mir immer: "Ouwe" (das mit dem Vogelweide-Text).
 
(Und nachgedichtet habe ich das Gedicht später dann ja auch noch):

"Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!"

O Weh, wohin sind verschwunden all meine Jahr
träumte mir mein Leben, oder ist es wahr
Was ich wähnte, dass es wäre, ist es Wirklichkeit
habe ich geschlafen, verschlafen all die Zeit
Nun bin ich wach, es ist mir gänzlich unbekannt
was mir vertraut war, so wie die eigne Hand
Meiner Kindheit Land: dort ward ich aufgezogen
all das ist mir nun fremd, als wäre es erlogen
die Kinder die ich kannte, sind träge jetzt und alt
Verödet ist das Feld, zerhauen ist der Wald
Wenn nicht das Wasser flösse, wie es schon damals floß
dann wäre ich mir sicher, mein Unglück wäre groß
Der mich einst bestens kannte, grüßt lässig nun und träge
mit Mißgunst sind gepflastert alle meine Wege
So denke ich an manchen freudenvollen Tag
entfallen ist er mir, ins Wasser geht der Schlag
O Weh jetzt immer mehr

O Weh, wie jämmerlich die jungen Leute sind
vormals war´n sie so frohgemut, wie heute nur ein Kind
jetzt kennen sie nur Sorgen, ich frage mich wieso
wohin ich nun auch schaue, es scheint mir keiner froh
Das Tanzen und das Singen vergehn in Sorgen gar
nie hat ein Christ gesehen so jämmerliche Jahr
Schaut hin, wie all den Frauen ihr Haarkranz steht
und jeder stolze Ritter in Bauernlumpen geht
Unsanfte Briefe, die man aus Rom uns sendet
sind nur zum Trauern gut und gegen Freud gewendet
das schmerzt mich inniglich (wir lebten einst recht wohl)
dass ich nun für mein Lachen das Weinen tauschen soll
Die Vögel in der Wildnis stehn stumm vor unsrer Klage
Wen wunderts, dass ich an den Freuden schier verzage
was sprech ich dumpfer Mann in meinem bösen Zorn
wer diesem Leben folgt, hat´s andere schon verloren
O Weh jetzt immer mehr

O Weh, wie Süße hier vergiftet unser Leben
im Honig sehe ich die bittre Galle schweben
Die Welt ist außen schön: weiß, grün und rot
und innen ist sie schwarz, so finstern wie der Tod
Wen sie verführte, der sehe seine Tröstung
geringe Büße schon bringt gänzliche Erlösung
Bedenkt es, Ritter, das ist euer Ding
ihr tragt den goldnen Helm und manchen Rüstungsring
dazu das feste Schild und das geweihte Schwert
Hilf Gott, dass ich auch sei des großen Segens wert
So will ich armer Mann verdienen reichen Sold
doch mein ich nicht der Höfe und nicht der Herren Gold
Der Seligkeiten Krone will ich nun ewig tragen
die konnt ein Legionär einst mit dem Speer erjagen
Könnt ich die Kreuzfahrt machen übers Meer
so würde ich dann singen: nimmer mehr
dann nimmer mehr o Weh
 

Dienstag, 19. Juni 2012

 
Wie wäre er denn gewesen, der Westen, im Jahr des Herrn 2012? Wenn die Mauer nicht gefallen wäre.
Eilmeldung Reuters, vom 27. Oktober 1989: nach der Chinesischen Lösung in Leipzig und Berlin, sind gestern die letzten Widerstände der DDR-Opposition zusammen gebrochen. Es kam zu Massenverhaftungen. Viele Bürgerechtler wurden in zuvor angelegten Lagern eingeliefert. Unsere Korrespondenten sind ohne Nachricht dieser Entrechteten, und auch die genauen Todeszahlen des Massakers auf dem Alexanderplatz entziehen sich weitgehend unserer Erkenntnis. Aus Oppositionellenkreisen wird aber von mehreren Hundert Ermordeten berichtet. Seit Montagabend herrscht Friedhofsruhe über dem stalinistischen Teil Deutschlands.

Die DDR ist also nicht zusammen gebrochen und hat sich in den darauf folgenden Jahrzehnten, ebenso wie die anderen Ostblockländer, abgeschottet. Nur in Rumänien gab es 1994 einen Volksaufstand, der aber von Sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde. In der Zone heißt seit 1997 der Generalsekretär des ZK Egon Krenz (nach einem innerparteilichen Putsch gegen Honecker, bei dem seine Frau Margot auf ungeklärte Weise ums Leben kam). In der BRD regiert der agile Wolfgang Schäuble seit 1998 mit der Mehrheit einer schwarz-grünen Koalition (Joseph Fischer wurde als Außenminister als einziger aus dem rot-grünen Kabinett unter Lafontaine übernommen, und ist nunmehr seit rund zwanzig Jahren der ewige Vizekanzler). Bundespräsident ist Rezzo Schlauch. Er wurde von der CDU/CSU mitgewählt, die so ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Grünen verdeutlichen wollte. (Die FDP unter Gösta Ostermann scheiterte bei den letzten Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde, die Freien Wähler unter Eike Siebenhaar zogen hingegen zum ersten mal mit knapp neun Prozentpunkten ins Parlament im Bonner Wasserwerk ein)

Eine Misere also, die westdeutsche Politik, insbesondere weil Altkanzler Kohl alle Tage seinen Senf dazu gibt, ebenso wie Altkanzler Schmidt, der ihm alle Tage widerspricht.
Aber es gibt ja auch den Lifestyle des Westens, der bügelt einiges aus. Zum Beispiel die hoch subventionierte Literaturszene in Westberlin, die fast allen Dichtern und Bohemiens ein Einkommen sichert. Unlängst wurde sogar eine eigene Literatursparte mit festangestellten Schriftstellern im Schillertheater eröffnet. Oberbürgermeister Frank Steffelt sprach aus diesem Anlass von "einem großen kulturellen Schritt der freien Welt". Auch der Ehrenvorsitzende der Berliner CDU, Eberhard Diepgen, konnte sich nicht verkneifen, auf die prekäre Lage der Schriftsteller in der sogenannten DDR hinzuweisen. Nach seinem Grußwort wurde ein Kassiber des Dichters Tom Schulz verlesen, der eine mehrjährige Haftstrafe im Gefängnis Bautzen absitzt, nachdem er seinen berühmt-berüchtigten Gedichtband im westdeutschen Hanser-Verlag veröffentlicht hatte. Sein Buch "Gehn´se weiter, Herr Gefreiter" hatte die eisgraue Nomenklatura der DDR so erzürnt, dass es zu einem, von der "Aktuellen Kamera" übertragenen, Schauprozess kam, in dem Schulz zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Im Westen hingegen ist das Leben schön. Besonders in Westberlin. Man darf überall rauchen (kiffen auch, der Besitz und Konsum steht seit 1996 nicht mehr unter Strafe), die Wohnungen sind billig - ich wohne mit meiner Familie in SO 36, Blick über die Mauer ins braunkohlegefärbte Treptow, 6-Zimmer-Küche-Außenklo, Ofenheizung, 480 Euro warm. Ach, nein, 670 DM natürlich, denn den Euro gibt es ja nicht (beziehungsweise den ECU), das sind ja alles nur Planspiele des damaligen Bundeskanzlers Kohl geblieben, kurz bevor er 1994 abgewählt wurde.
Mit meinem Job beim SFB (Redakteur für Hörspiel und Radiokunst) und der obligaten Berlin-Zulage, lässt sich diese Miete leicht tragen, und für winterliche Ferien in Griechenland reicht es allemal (der Kurs der Drachme steht günstig zur Zeit). Ausserdem habe ich letztes Jahr zum dritten Mal das große Berlinstipendium bekommen, zusammen mit 59 anderen Dichtern. Die 40.000 DM sind noch nicht ganz aufgebraucht.
(... tbc ...)

Freitag, 22. Juni 2012

 
Sommeranfang – selten in so grauen Tagen fest gehangen und dem Herbst entgegen gefiebert. Jetzt für 399 D-Mark nach Mallorca fliegen. Nach Port de Soller. Das wäre schön, das würde mir diesen hässlichen Sommer versüßen, diesen Sommer der schlechten Nachrichten, diesen Sommer ohne Treibstoff.
 
Vielleicht aber wäre ich ja auch fett geworden und würde einen Stone-Washed-Anzug tragen (hellgrün) mit dicken Schulterpolstern. Denn die Mode hat sich wenig verändert seit 1985. Keinerlei neue Impulse hier im Westen, in den letzten 27 Jahren. Die Frauen tragen noch immer Wildlederstiefeletten und asymetrisch geschnittene Jacken mit Applikationen.
Aber es ist nicht alles schlecht im Jahr des Herrn 2012, man kann mittlerweile sogar die Laptops bezahlen. Mein neuestes von Sinclair hat nur 2399 DM gekostet (ich hab es mit den Resten der ersparten Berlin-Zulage gekauft), und es hat ein integriertes Modem. Das wollte ich schon lange haben, denn seit vorletztem Jahr gibt es Internet auch für Privatpersonen. Die Telekom legt ja schon seit 2010 Anschlüsse für schlappe 199 DM. Und die Minute Internet kostet gerade mal 39 Pfennig. Demnächst werde ich dann wohl meine erste E-mail schreiben, an meinen Freund Mark, der im Rechenzentrum der FU arbeitet (in der Fakultät für Konfliktforschung).
Die Welt hängt derweil durchgehend am Abgrund, nachdem dieser unangenehme Stellvertreter-Krieg zwischen Pakistan und Indien stattgefunden hat, sie verharrt, diese Welt, seit zwei Jahrzehnten, und niemand regt sich, alle leben so vor sich hin und belauern die Gegenseite.
Falls sie sich nicht mehr erinnern können, oder noch zu jung sind, den großen Indischen Krieg erlebt zu haben, hier ein paar Eckdaten:
Nachdem der sowjetische Staats- und Parteichef Andropow gestorben war, wurde Andrej Gromyko neuer Generalsekretär – er hatte sich gegen einen noch unbekannten Herausforderer, einen gewissen Gorbatschow, durchgesetzt – und mit seiner Ernennung wurde der Kalte Krieg so eiskalt, das der vorherige Kalte Krieg im Rückblick geradezu frühlingshafte wirkte. Die UDSSR intensivierte ihren Krieg in Afghanistan, und die USA intensivierte ihre Unterstützung der Taliban. Die Russen zogen sich vorläufig 1988 aus dem verwüsteten Land zurück, und die Taliban marschierten wenig später in Pakistan ein und übernahmen auch dort die Macht. 1990 vereinigten sich beide Länder unter dem Druck der Gotteskrieger, und der neue Staat bekam den Namen Mogulistan und lieferte sich umgehend blutige Grenzscharmützel mit Indien, das mittlerweile von den Sowjets hochgerüstet wurde, unter den Argusaugen Chinas.
Wer genau im April 1991 die schmutzige Bombe im Zentrum Bombays zündete, wird wohl niemals geklärt werden können, aber in Folge kam es zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen den beiden Ländern. Insgesamt acht mogulistanische und zwölf indische Mittelstreckenraketen verheerten die Region. Mehr als 25 Millionen Todesopfer waren zu beklagen und unzählige Verwundete.
Nach diesem, nur zwei Tage andauernden, Krieg besetzten die Sowjets erneut den afghanischen Teil Mogulistans und US-Truppen das ehemalige Pakistan. Kaschmir wurde unter UN-Verwaltung gestellt und fungierte als Puffer.
Seither stehen sich die zwei Blöcke nicht nur in Europa, sondern auch auf dem indischen Subkontinent gegenüber.
Die fortwährende Hochrüstung der letzten Jahrzehnte hat zudem alle Wirtschaftskraft der Kontrahenten aufgefressen, sodass es 1994 zu einer massiven Weltwirtschaftkrise kam.
Natürlich geht es uns noch gut hier im Westen, auch wenn seit über zehn Jahren das Benzin rationiert und jeden Sonntag autofrei ist. Es gibt noch immer genug Waren in den Supermärkten; vielleicht ist das Angebot von Luxusartikeln etwas eingeschränkt – aber Tilsiter schmeckt ja ebenfalls, es muss nicht immer französischer Käse sein.
Was mich persönlich am Meisten stört, ist die Abwicklung der zwei privaten Fernsehsender (RTL und SAT 1). Auf den öffentlich-rechtlichen laufen Tag aus, Tag ein die immer gleichen Wiederholungen (Hollywood ist von der Wirtschaftskrise schwer mitgenommen worden), und die Nachrichten vermelden jeden Abend die gleichen Erfolgsmeldungen vom Krieg in Ozeanien.
 
Vorhin gerade habe ich eine Ansprache des Bundespräsidenten Grass im ZDF gehört – eine Sondersendung, die vor dem Informationsmagazin der Bundeswehr ausgestrahlt wurde – und Grass sprach davon, dass wir den Gürtel noch enger schnallen müssen, weil die neuerlichen Unruhen im Nahen Osten auch Auswirkungen auf unsere Wirtschaft haben könnten.
Seitdem der US-amerikanische Präsident Schwarzenegger – den ich, am Rande erwähnt, noch in seinem letzten Film „Conan“ gesehen habe, und der unlängst seine dritte Amtszeit angetreten hat – seit also Schwarzenegger ein striktes Embargo über Saudi-Arabien verhängte (die islamistische Regierung dort war mehrfach in die israelischen Grenzgebiete einmarschiert, aber von den Truppen Israels immer wieder zurück geschlagen worden), ist der Ölhahn noch weiter zugedreht, und hier in Berlin munkelt man, dass es bald auch einen autofreien Samstag geben soll.
Bundeskanzler Scharping hat zwar keine Mobilmachung ausgerufen, aber den kasernierten Einheiten der Bundeswehr ist jeglicher Ausgang oder gar Urlaub gestrichen worden. Wir werden wohl bald gen Ozeanien marschieren.
 
Habe ich schon erwähnt, dass sich seit 2004 der Fernseher nicht mehr ausschalten, nur leiser stellen lässt. Und dieser Fernseher, ein Volksprodukt von Siemens, muss in jedem deutschen Haushalt fest in der Wohnzimmerwand installiert sein.
Ah, jetzt gerade senden sie das neue Lied von Dieter Bohlen: „Die Wacht am Hindukusch“.
Eine so schöne Melodie . . .

Sonntag, 24. Juni 2012

 
Ich denke über Rainer Schedlinski und Sascha Anderson nach.
Schon am Nachmittag, in der Domäne Dahlem, auf einer grünen, blumendurchwehten Wiese, dachte ich über die Spitzel nach. Ich lag dort im schwarzen Jackett in der trüben Sonne, die durch ein halbdruchlässiges Wolkenlaken durchglimmte, das Wetter war schwül, mein Gehirn schwer angeschlagen von der noch immer in meinem Körper herum geisternden Erkältung, meine Frau lag neben mir und sprach von der Zukunft, während sie ein Holzmesser aus einem Rindenstück schnitzte, das für unseren Sohn bestimmt war, der hinter den Büschen, der grünen Wand aus Buschwerk, in Bäumen kletterte; dort also lag ich und dachte über den Prenzlauer Berg nach. Und war ratlos. Und denke weiter darüber nach, und werde morgen Abend berichten, wenn ich von der Maßnahme zurück komme, die mir das Jobcenter eingebrockt hat, und zu der ich die nächsten fünf Tage erscheinen muss, acht Stunden täglich, und in der man mir voraussichtlich beibringen wird, wie ich mich richtig und anständig und standesgemäß für ein Bewerbungsgespräch kleide, und wie ich mit MS-Dos umgehen muss, wenn ich einen hübschen, geradezu eilfertigen Bewerbungsbrief schreiben will. Auch darüber werde ich morgen berichten.

Dienstag, 26. Juni 2012

 
Am gestrigen Morgen stand ich also um Punkt 8.28 Uhr an der Tür, hinter der die Maßnahme wartete. Ich strich mein Haar glatt und ging hinein. Dort saßen knapp zwanzig Arbeitslose um ein Tisch-Hufeisen und starrten mich an. Und der Kursleiter teilte mir zerknirscht mit, dass ich überzählig sei. Denn das Jobcenter würde zu solchen Kursen immer die doppelte Anzahl Teilnehmer verpflichten, in der Erwartung, dass das lasche, arbeitsscheue Pack nur zur Hälfte auftauchen würde. Da aber der arbeitslose Arbeitnehmer von Angst getrieben ist, heutzutage, waren zu diesem Kurs schon vor dem festgelegten Beginn die nötige Anzahl erschienen, so dass ich mir wenige Minuten später mein sinnloses Erscheinen im Sekretariat bestätigen lassen und wieder nach Hause fahren konnte. Und ich fuhr mit meinem Fahrrad durch die Kleingartenanlagen (die Wolken jagten über den Himmel), zwischen der Maßnahmenmisere und meinem Heimathafen, und ich war ernsthaft betrübt. Man wollte mich mal wieder nicht haben. So schade ist das.
 
Den Tag verbrachte ich dann mit Lesen und Vaterpflichten. Und war sehr froh, am Abend endlich zusammen brechen zu können. Das Leben der Boheme ist hart. Und ich schlief 14 Stunden am Stück einen rauen und schwermetallfarbenen Schlaf, aus dem ich an diesem Morgen ausgemangelt erwachte, um ein wenig zu weinen.
Danach war Korrespondenz zu erledigen, das Kind wollte unterhalten werden, das Wetter war trübe.
Ich las zwischendrin bei Facebook, dass eine Freundin den Jahreszeiten eine neue Abfolge gegeben hatte: Frühling, Arschloch, Herbst und Winter. Aber damit war ich nicht einverstanden, vielmehr müsste man sagen, die Klimakatastrophe beschere uns einen ewigen Herbst. Trakl hätte diese Katastrophe geliebt. Und nebenbei: müsste der Kölner Dom nicht schon halb unter Wasser stehen; gab es nicht in meiner Jugend dieses Spiegel-Titelbild, dass uns so ikonographisch an den Untergang gemahnte?
 
Am Nachmittag ließ ich mir eine neue Brille anpassen, aus Glas, bei Fielmann, für 35 Euro. Danach wieder auf den Spielplatz, auf dem die Mütter genervt in den Himmel blickten und die Kinder zaghaft mit den Schuhspitzen im Spielsand scharrten. Die wilden Kirschen neben den Kleinkindschaukeln waren noch grün, der Körper, den ich mit mir herumtrug, war ein Schlachtfeld, über das der Krieg schon fort gezogen war, und das nun wüst und eingestampft unter dem Himmel aus weißem Hemd lag.
 
Ich ging zurück zu meinen Büchern und las über die Spitzel. Und es gab einiges, was mir einfiel, was mich anfiel, als ich über diese Spitzel mir Gedanken machte:
Es sind die Randfiguren, und eben nicht die zentralen Spitzel der Szene vom Prenzlauer Berg gewesen, die sich nach der Wende literarisch durchsetzten konnten; Hilbig und Grünbein haben den Büchnerpreis bekommen, Wawerzinek den nach Ingeborg Bachmann benannten. Wer hätte das gedacht, in den alten Kreisen hinter den sieben Bergen, dass S.C.Happy einmal alle nicht nur überholen, nein überrunden würde.
Mir ist er 1992 als versoffenes Subjekt vorgestellt worden. Der hätte nichts zu sagen, der da, der gerade auf der leeren Bühne der Volksbühne tanzte und Reden schwang, in die leeren Logen hinein, der nicht bei den wichtigen Leuten im Roten Salon oder in der Kantine das Maul aufriss, auf dieser wichtigen Premierenfeier, der lieber den Stühlen etwas erzählte.
So kann man sich irren.
 
Die zwei Spitzel hingegen, die Hoffnung der gesamtdeutschen Literatur, die einen Nachwendesommer lang herum gereicht wurden, Herr Anderson und Herr Schedlinski sind abserviert (sie werden platziert), der eine verstummt, der andere nahezu. Nichts genaues weiß man nicht. Sie scheinen ihr Geld zu verdienen, sie haben ein Privatleben, sie äußern sich nicht zum Sachverhalt.
Mit dem einen saß ich vor einigen Jahren am Kneipentisch, nach einer Lesung (nicht seiner), und er schien mir ganz guter Dinge. Er erzählte, er hätte eine Gryphius-Erstausgabe im Regal stehen. Und er sprach leise. Und mich überkam ein leichtes Gruseln, wie ich so neben ihm saß.
 
Das war vor Jahren. Kaum etwas ist übrig geblieben von der einstigen Szene. Ganz historisch ist das alles geworden. Die zwei Spitzel sind vom westdeutschen Feuilleton dazu verwendet worden, die ganze Szene unter den Teppich zu kehren. Papenfuß, Matthies, Jansen, Faktor; wer spricht noch von ihnen? Nur Kolbe hat sich auf ein Treibgutstück retten können.
(Oder liege ich falsch, sehe ich das alles nicht richtig, ist mein nachgeborener, westdeutscher Blick zu astigmatisch? Und wären diese, meine Augen seine, hätte Nicolas Berggruen das genau so gesehen?)
 
Aber geradezu paranoid macht mich die eine Überlegung: es wird in allen Verlautbarungen zu der Zeit, in den frühen 90ern, als ich gerade nach Berlin gekommen war und als naseweiser Jungdichter im Café Westphal stand, und in die Dämmerung hinein blickte, aus der nur zwei, drei bleiche Köpfe ragten, die vielleicht die angefüllten Schädel von Dichter waren, zu der Zeit also wird immer nur von zwei Spitzeln berichtet, dabei kann man in den übriggebliebenen Akten und Karteikarten nachlesen, dass es einige mehr gegeben haben musste, in der Prenzlauer-Berg-Connection. Doch wer waren sie? Das ist nicht mehr gefragt worden, denn irgendwann im Jahre 1993 waren alle Kombattanten so ermattet von dem Kampf in den Blättern, war auch das Marktgeschehen in den Kulturbeilagen plötzlich auf andere Affairen fokusiert, dass alle ins Schweigen zurück fielen.
Und wieder überkommt mich ein leichtes Gruseln, denn sie sind ja alle noch da, die Schuldigen und die Unschuldigen, aber ich weiß nicht mehr, wer auf welcher Seite der Barrikade nächtigt. Ich könnte auf Lesungen stehen, in der Literaturwerkstatt oder in irgendeinem Club, und neben mir steht ein ehemaliger Spitzel, der mir ein Bier reicht. Oder mir von seiner Gryphius-Erstausgabe flüstert.
 
(Und die einzigen, die vielleicht bescheid wüssten, wären die Herren (und Damen) vom Verfassungsschutz (deren Akten ich auch einmal gerne einsehen würde), denn sie hatten vielleicht die längsten Finger im Jahr 1990, und sie haben die besten Argumente auch heute noch, die Hunde schnüffeln zu lassen).

Donnerstag, 28. Juni 2012

 
Gerade, nachdem ich den Abend in meiner stillen Kammer verbrachte hatte, die auch still geblieben war, weil offenbar die deutschen Fußballdeppen verloren haben, und in der ich zehntausend Zeichen in die schäbige Tastatur meines Laptops Baujahr 1998 gehackt habe; gerade nachdem ich die Kammer mit teerverklebten Lungen und rotweindurchschossener Leber verließ, musste ich an Radio 100 denken.
Ich hatte in der Anthologie "Vogel oder Käfig sein", die die Samisdat-Druckerzeugnisse der späten DDR Revue passieren lässt, einige Gedichte von Rüdiger Rosenthal gelesen, der mir kein Begriff war. Beim Googlen entdeckte ich, dass er wohl das lyrische Schreiben nach der Wende eingestellt und stattdessen Journalist geworden war. Unter anderem bei Radio 100.
Auch das ist völlig verschwunden, kaum noch ein Gerücht, schon zwanzig Jahre her. Ich war gerade in Berlin angekommen, hauste in der düsteren Parterrewohnung meines Bruders, der für ein geschätztes Jahr nach Leningrad gegangen war (so hieß das damals noch, mein Sohn), und zählte die Weberknechte an den Wänden des Flurs, trank den Maitre Philippe aus der Flasche und rauchte Senoussi. Und hörte jeden Abend, bevor ich ins Café Anfall ging (oder ins Niagara, oder in den Heidereiter) diesen einen Sender: Radio 100. Das beste Radioprogramm, dass jemals über den Äther ausgestrahlt wurde.
Auch wenn ich nicht mehr sagen kann, was eigentlich genau gesendet wurde, ist schon zu lange her, nur so ein Klumpen Erinnerung ist übrig geblieben, in dem Stimmen sind und Musik. Feeling B wurde dort gespielt, und die ersten deutschsprachigen Platten von Element of Crime. Und Kassettensampler aus der Independent-Szene. Merkwürdige Krachmusik aus dem tiefsten West-Berlin. Und es gab Kulturprogramme für Anarchisten, für Radikale und für Schwule & Lesben (Eldoradio hieß die Sendung und war vermutlich die erste ihrer Art europaweit).
Ich glaube, um 17 Uhr wurden Kultur- und Szenenachrichten gebracht, und die Sendung hieß "Teeschock". Oder hieß die eine "Teerausch" und die andere "Kulturschock"?
Und da war noch viel mehr, aber es verschwimmt mir im Kopfe.
Das eine weiß ich aber noch: wenn eine Straßenschlacht in Kreuzberg oder Friedrichshain stattfand, dann wurde in den Verkehrsnachrichten von Radio 100 auf die gesperrten Straßen hingewiesen: "Liebe Leute, auf der Oranien- und Wienerstraße ist alles zu wegen eines Polizeieinsatzes. Bitte umfahrt den Bereich weitläufig, und, Freunde, geht da bitte nicht hin". (Mach ne Faust aus deiner Hand...)

Samstag, 30. Juni 2012

 
Die schönsten Platten waren natürlich die der ARCHIV-Serie der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Es gab nichts, was ich in meiner Kindheit zu Gesicht bekam, das eine derartige Distinguiertheit ausstrahlte, nichts, was dem Besitzer einen dermaßen großen, goldenen (und dabei natürlich unsichtbaren) Orden der Bildung ans Revers heftete.
Mein Großvater hatte einen kleinen Stapel dieser LPs. Sie standen neben der – so sagte man mir – sehr teuren HiFi-Anlage im Klavierzimmer, und durften genauso wenig von einer Kinderhand berührt werden wie die Anlage von Sony. Ganz selten nur wurde eine der Platten aufgelegt, denn mein Großvater hatte schon lange vor meiner Geburt das Klavier spielen eingestellt und danach auch keine Berechtigung mehr gesehen, andere Pianisten zu hören.
Auch seine künstlerische Arbeit war genauso unbarmherzig von ihm eingestellt worden, wie Jahrzehnte später das Rauchen – von einem Tag auf dem anderen. Während meiner gesamten Kindheit stand sein letztes, unvollendetes Werk zwischen Klavier und Stereoanlage; ein Kinderporträt aus Ton, das noch auf dem Arbeitsstativ steckte und einstaubte.
Er hatte früh mit der Bildhauerei angefangen, war aber immer zu kritisch gewesen, zum einen, weil sein Vater ein angesehener Maler gewesen war, zum anderen, weil er nicht genug Geld für seine sechsköpfige Familie damit verdienen konnte. Aber überall standen noch Steinköpfe und Holzfigurinen in den Zimmern, und im winzig kleinen Garten ein lebensgroßer Akt aus Granit, der, wie ich viel später erfuhr, meine Großmutter darstellte. So verbachte ich jeden Sommer im Haus eines Künstlers, der kein Künstler mehr war. Der aber immer noch Gedichte schrieb, wie er es wohl seit seiner Jugend getan hatte, und die er zusammen mit Arbeiten anderer semiprofessioneller Schriftsteller in einer selbst edierten Zeitschrift veröffentlichte. Die Zeitschrift hieß „Phönix“, und er setzte und druckte sie mit einem der ersten Heimcomputer, einem dunkelgrauen Ungetüm ohne Bildschirm, das mit einem Staubfang abgedeckt in seinem Arbeitszimmer stand.
Wenn wir in den Sommerferien bei den Großeltern logierten, schliefen mein Bruder und ich dort auf zwei alten Betten aus lackiertem Stahlrohr, die wie die Flügel des Tores zur Hölle quietschten. Und mein Großvater verbot mir, den Staubfang wegzuziehen, um diese dunkle Maschine zu betrachten, denn die hätte so viel gekostet wie ein Kleinwagen. So kam es, dass mir erst später klar wurde, dass mein Großvater vermutlich zu den zwei Dutzend Privatleuten in Den Haag gehörte, die schon 1974 einen eigenen Computer hatten. Anfang der 80er kaufte er sich dann die erste elektrische Schreibmaschine mit Display und Speicher, ein Gerät von Sony. Da hatte ich gerade selbst angefangen zu schreiben, und ich beneidete ihn sehr um dieses Gerät. Nach seinem Tod ist es vermutlich für zehn Gulden bei einem Trödler verkauft worden.
Vor einigen Jahren habe ich mir beinahe die gleiche Schreibmaschine bei Ebay ersteigert, aber was würde ich damit angefangen haben, letztendlich, ich war mir nicht einmal sicher, ob es noch das passende Thermopapier gegeben hätte.
Stattdessen sammele ich nun schon seit einigen Jahren die ARCHIV-Platten der Deutschen Grammophon, die man für ein, zwei Euro auf dem Flohmarkt bekommt. Ich liebe nach wie vor ihr schlichtes, distinguiertes Design, und mittlerweile höre ich sie auch, ich habe ja keine Kinderhände mehr (und ich verwahre sie außer der Reichweite meines Sohnes) . Die dort archivierte Musik entspricht genau meinem Geschmack; Klassik in „Historisch informierter Aufführungspraxis“. Bach auf dem Cembalo, Mozart auf dem Hammerklavier, Dowland auf der Knickhals-Laute, aufgenommen in den späten 50ern, als bei allen anderen Schallplattenfirmen Bach auf dem Klavier gespielt wurde, Mozart ebenfalls, und Dowland auf der Gitarre. Was für akustische Sensationen müssen das gewesen sein im Jahre 1957. Haydn auf einem Graf-Fortepiano, Lieder von Ludwig Senfl, begleitet mit Zinken und Pommern! ARCHIV, dein Name sei der Name der schönsten aller Platten!

Dienstag, 3. Juli 2012

 
Wieder saßen die Dichter an einem Kneipentisch in Kreuzberg. Und tranken zu viel. Ich versuchte mit der schlechten Kamera zu knipsen, aber keine Dichterin und kein Dichter wollte sich an diesem Abend ablichten lassen. Sind sie alle nur schüchtern geworden mit den Jahren, oder sind es die Jahre selbst, die sie davor zurück schrecken lassen?
Die Dichter sind Wilde, sie sitzen in einem Kreuzberger Kraal und wollen nicht photographiert werden, denn sie fürchten, dass dieser kleine, merkwürdige Apparat ihre Seele stehlen, zugleich mit ihrem Abbild ihr Selbst aufsaugen könnte.
Stattdessen wurde ich abgelichtet, meine Seele saß fest an ihrem angestammten Ort, zwischen den Muskelfasern meines Herzens.
 
Später bleischwerer Schlaf, wie die heiligen zwei Georgs schreiben würden, wären sie nicht in allertiefsten Schlaf verfallen. Dann mit den Vögelein aus dem Bett und frischem Muts zur Maßnahme, weil das Jobcenter mich natürlich doch noch gekriegt hatte. Verblüffend, wie schnell diese Sachbearbeiter plötzlich reagieren konnten, als es um die erfreulichen Dinge des Lebens ging; keine drei Tage nachdem ich bei der ersten Maßnahme fort geschickt worden war, kam mit schnellem Boten (nein, es war nicht der des Herrn Nicolas Berggruen) eine Aufforderung ins Haus geflattert, dass ich mich in fünf Tagen in einem Seitengebäude des Ullsteinhauses einzufinden habe.

Und hier sitze ich nun, in einem leeren Computerraum ohne Netzwerkverbindung, und ich schaue aus dem Fenster und betrachte eine Weile ein begrüntes Vordach, eine kleine Wildnis, die lange nicht mehr zurecht gestutzt worden ist. Hohe Gräser flattern im Abluftwind eines Lüfttungsschachts. Auch dichtes, weiches Moos wächst dort. Ein paar Waschbetonplatten  markieren Wege über das Dach, werden aber schon bald von Flechten vollständig überwuchert sein.
Ich warte auf den EDV-Experten (was für eine altertümliche Bezeichnung), der mir die Internetverbindung wieder zusammen basteln soll, denn die Dozentin der "Orientierungs- und Aktivierungs-Maßnahme" gestattet mir, ein bisschen Lektoratsarbeit zu erledigen, nachdem sie am ersten Tag mitbekam, dass meine Kompetenzen nicht durch sieben Stunden "Lebenslauftraining" aufgefrischt werden mussten.
Nur: wie soll ich Gedichte lesen, mit einem derart schweren Schädel?
Also schaue ich erst einmal wieder aus dem Fenster, und das was ich denke ist: Bäume sind schön.

Man muss ab und an solche simplen Erkenntnisse sich vergegenwärtigen. Natürlich sagt man oft "Das ist aber ein schöner, alter Baum" oder "Ich liebe dieses grüne Blätterdach der Allee, einer Kathedrale gleich" - na gut, zweiteres sagt man vielleicht nicht allzu oft - aber diese Grunderkenntnis "Bäume sind schön", die gerät aus dem Blick. (Besonders wenn man nüchtern ist).
Und jetzt ist auch der EDV-Mann da gewesen. Und jetzt kann die Arbeit endlich beginnen.

Freitag, 13. Juli 2012

 
(Frau und Kind sind gerade los gefahren, in die Uckermark, mit einem Zelt im Gepäck. Ich hoffe, dass es nicht allzu sehr regnet. Hier ist es fünf Minuten still geblieben, dann habe ich Cembalosuiten von Händel aufgelegt - die Sammlung von 1733, gespielt von Edgar Krapp auf einem Kirckman-Nachbau von 1787 - ich hoffe, die Nachbarn mögen Barock).

Gestern Nacht, als ich mich versuchte in den Schlaf hinein zu wälzen, aber ihn nicht finden konnte, dachte ich wieder einmal über den Tod nach, so wie ich es fast täglich tue. Und es kamen mir zwei Gedanken, für die ich nochmal aufstand, um sie niederzuschreiben:

Weil wir den Tod in Verbindung mit dem Schlaf setzen, und weil wir ob der geschlossenen Lider kurz vor dem Schlaf nichts als Schwärze sehen, glauben wir, dass der Tod Dunkelheit ist und Leere und Abwesenheit. Das ist aber nur eine durch Unwissenheit vorgegebene einspurige Assoziation. Es scheint mir, als sei die Angst vor dem Tod in der Angst vor dem Schlaf begründet und nicht umgekehrt. (Vielleicht spielt auch noch die Erinnerung an die Zeit im Mutterleib mit hinein).

Denn was soll kommen nach dem Tod, wenn nicht das Licht?
Wir können uns Gott als Körper vorstellen - dieser Körper mag das Universum sein, das All, oder noch alles darüber hinaus sich befindliche - und wir sind die denkenden Zellen dieses Leibs, die wie in einem Nervennetz ihre Gedanken zu dem Gehirn Gottes schicken, das klarerweise zudem selbst denkt, dessen Gedanken wir aber nicht fassen können, weil wir nur Sender sind. Erst nach dem Eintritt des Todes werden wir auch zu Empfängern sowohl der Gedanken Gottes, als auch der Gedanken aller anderen Zellen (die fleischliche Abschirmung fällt ja weg). Das ist wohl das, was man gemeinhin Noosphäre nennt.

Freitag, 20. Juli 2012

 
Nach einer durchsoffenen Nacht (zusammen mit Björn, Tom und einem Überschuss Weinbrand vom Spätkauf, zu dem wir von einer Vernissage in Neukölln Abstecher machten), hatte ich die heftigste Panikattacke meines Lebens.
Die Vernissage war gelaufen und ich nach Hause gegangen, schwankte durch die Nacht, kam an leeren Ecken vorbei, am Innsbrucker Platz, an dem mir eine Woche zuvor noch ein gleichgültiger Fuchs entgegen getrottet war, fand die Wohnung und trank dort weiter, derweil ich mir Videoclips mit Musik meiner Jugend im Internet anschaute.
Frau und Kind waren ja Zelten, ich zwar keine Dreißig mehr, aber fest davon überzeugt, dass ich die alten Unarten schon wegstecken würde. Dann geisterte ich zum Bett und fiel in einen so schwarzen Schlaf, dass ich mich nicht mehr an das Einschlafen erinnern konnte, als ich am nächsten Morgen mit ausgedörrten Gliedern und fremden Gehirn erwachte.
Schon im Badezimmerspiegel, der mir fröhlich entgegen leuchtete, konnte ich die Verschiebung des Selbst erkennen, Gummifilter vor der Kameralinse, wie in dem Fassbinder-Film „Angst vor der Angst“, den ich am Tag zuvor angefangen hatte zu schauen. Ein leichtes Kribbeln in den Armen, von dem übermäßigen Sauerstoff, den mir die Vorangst in die Lungenbläschen trieb. Und die alte Fremdheit.
Aber alles noch roger, no problemo, Companero. Bis dann die bekannte Panik, der tückische Freund, von der Mitte des Leibes durch die plötzlich auseinander gerissenen Fleischlappen eilte.
Ich konnte gerade noch ein Jackett überstreifen, die Schuhe an die nackten Füße binden und nach draußen taumeln. Währenddessen etwas in meinem Körper, in meinem Ätherleib, in dieser undefinierbaren Scheiße dort drinnen hoch brauste und mich besitzen wollte, spätestens vor der Haustür auf der Straße dann auch Besitz von mir ergriff.
Mein Gedanke war: Krankenhaus, es geht zu Ende. Über dem wirren Geist der Panik ein Rest von Ich, das abwägte, das sich abfand mit dem nun bald einsetzenden Herzinfarkt. Dabei war es ja keine Neuigkeit; Panikanfälle hatte ich seit meiner frühen Jugend immer wieder ertragen müssen, das war mir in das Selbst gegossen, ein meist ruhiger Tümpel, der ab und an zu blubbern begann. Doch die letzten Jahre war es besser geworden, durch Alter und Psychoanalyse. Durch eine wissend stoische Haltung, die mich befähigte, diese Panik, die alle paar Monate (manchmal auch alle paar Wochen) auftrat, über mich hinweg branden zu lassen. (A burst of sound. This can not be happened).
Aber heute war es anders, löschte jeden kritischen Verstand in mir aus. Als ich durch die gepflegte Gartenanlage des Krankenhauses stolperte, umfasste mich plötzlich etwas schweres, trübes, das mir den Oberkörper zusammen schnürte, ich kam kaum noch weiter, die Umwelt war aus Aspik, ich stöhnte auf, mit letztem Atem, und sah den Eingang zur Notaufnahme, wusste aber, dass ich dort nicht mehr hingelangen würde. Neben mir spazierte ein Patient an den Blumenbeeten entlang und ich stammelte „Ich brauche einen Arzt“. Er schaute mich an und sagte gleichgültig „Ich bin kein Arzt“.
Also trieb ich meinen Körper weiter voran, durch den Aspik der Luft, hin zur Rettungsstelle. Und kam dort an, endlich, mit letzter Kraft, klammerte mich am Empfangstresen fest und murmelte „Mein Herz“.
Ich wurde sofort in einen Raum mit fünf Liegen gebracht, die mit Vorhängen voneinander getrennt waren (wie in einem alten Film: Schwester kommt gleich und bringt Morphin gegen die Schmerzen der Schrapnellverletzung). Man klebte mir Wegwerfplättchen auf die schweißnasse Brust und schloss mich ans EKG an, nahm mir Blut ab, um die Cholesterin- und Leberwerte zu ermitteln, die im Falle eines Herzversagens üblicherweise vervielfacht sind.
Nichts geschah, mein Herz pochte wieder ruhiger, ich bekam Atem, und sagte Amen, lieber Gott, nur ein Panikanfall, danke, Herrscher der Welt. Ich bekam Atem.
Neben mir, hinter den dünnen Vorhängen, lagen zwei andere Männer. Der eine hatte von seiner Chipkarte, die wohl mit einem Tragbaren EKG verbunden war, wenige Stunden zuvor einen Herzalarm mittels Piepton angesagt bekommen. Der war aber ein falscher Alarm gewesen, so dass der Patient jetzt mit dem Arzt diskutierte, ob er nicht nach Hause gehen könne, er kenne das ja schon, sei nicht so schlimm, alles roger. Der Arzt stimmte ihm zu, nachdem er mit dem Herzspezialisten der Klinik telefoniert hatte.
Hinter dem rechten Vorhang lag ein Kandidat wie ich, dem nur die Panik ins Fleisch gestiegen war, und dem jetzt seine resolute Ehefrau Wasser brachte, ihm gut zuredete. Er hingegen sagte immer wieder, er würde sich so merkwürdig fühlen, er könne sich an gar nichts mehr erinnern, ihm sei ganz fremd geworden, sich und der Welt gegenüber. Die Frau beruhigte fortwährend, das wird schon wieder, das wird schon wieder. Und ich hatte keine Frau an meiner Seite, meine Familie war in der Uckermark, was mit ein Grund für die Attacke gewesen sein dürfte, denn man fliegt ruhiger in freundlicher Umgebung.
 
Ich lag dort noch Stunden, bis zum frühen Abend, und hin und wieder kam ein freundlicher Arzt vorbei, um mich nach meiner Vorgeschichte zu befragen. Ich gab an, dass diese Unpässlichkeit vermutlich doch nur ein Panikanfall sei, und die Lage entspannte sich. Ich lag in der Notaufnahme, der EKG-Monitor machte leise Bling, und ich fand die Ruhe wieder. Endlich ein bisschen Ruhe und Erholung. Nichts mehr zu tun und noch am Leben.
Gegen sechs Uhr wurde mein Nachbar auf die Psychatrische geschickt und ich nach Hause.
Draußen schien die Sonne, das Leben war noch da, die Finsternis umfing mich nicht mehr, und ich lief mit weichen Knien zum Supermarkt um Süßigkeiten zu kaufen.
Mein schönstes Ferienerlebnis.
 
Jetzt sitze ich hier in meiner Kammer, an meinem Sekretär, und schreibe das erste Mal seit dem Anfall. Noch sitzt mir die Erschöpfung in den Gliedern, aber alles fügt sich wieder in meinem Kopf zusammen. Wie fragil dieses Ich ist, wusste ich schon lange, aber es ist immer wieder eine große Geburtstagsüberraschung, das Platzen des inneren Ballons zu fühlen. Wahrzunehmen, dass alles zu Ende, wenn auch noch nicht ans Sterben geht, wahrzunehmen, wie alles, was ich als meine Identität empfinde, zerstieben kann, und nichts zurück bleibt, als ein weiches, halb zerquetschtes Tier, eine Minusgestalt.
Doch in dem Moment, in der die Welle bricht und mich unter sich begräbt, reißt etwas sich in mir hoch, zwischen den eng stehenden Schleusen der Panik, zwischen denen die Todeskraft entlang strudelt, reißt sich also etwas hoch auf den Vorsprung über meinem Bewusstsein, das so real ist, dass ich es als Nukleus meines Selbst erkennen muss. Kein Gefühl ist intensiv wie dieses, keines schlägt mich derart zurück in die Ursprünge meiner Person, hin in die elternfreie Wiege, in das Krankenhausbettchen, in die stille, sprachlose Nacht, zurück hinter die Schranke der Erinnerung.
Ironisch, dass mich das dort hinbringt, wo ich am wenigsten sein will, in ein Krankenhaus.
Aber die Zeit schreitet fort, Panther Reh, und nichts bleibt in den Händen als Staub zurück, nicht einmal die Hände kann ich Herrn Gryphius reichen. Nicht einmal Staub kann verwehen. Sekundenschlaf, Erinnerungsströme, Zeitverwirbelung. A burst of sound. This can not be happened…
 
Nach der Umarmung Pans dann eine stille Woche im Klischee. Bücher und Kräutertee. Korrespondenzen und Regen vor den Fenstern. Zwei Tage nach dem Ereignis bekam ich per Post meine neue Lesebrille, ein zwanzig Euro teures Modell eines Internethändlers, und endlich konnte ich wieder schnell und flüssig lesen. Was für eine Sensation, was für ein Vergnügen. Seitdem ein Buch nach dem anderen und das Verlangen nach einer noch stärkeren Brille.

Montag, 30. Juli 2012

 
(Die Sommerpause ist hiermit beendet. Ich habe lange nicht mehr eine so zähe Zeit erlebt, in der ich dergleich wenig schrieb. Ich weiß, andere würden das bei sich als eine hochproduktive Phase wahrnehmen, für mich aber kamen die letzten Wochen einem Writer´s block nahe. Also jetzt: Reset und Neustart. Der Arbeitsspeicher ist zwar noch etwas heiß gelaufen und die Kühlung zickt, aber was hilft´s. Wie Rainald Goetz schon sagte: Don´t cry, work.)
 
Ich habe vor einigen Tagen wieder die späte Gedichte Hölderlins gelesen, aus der Scardanelli-Zeit, als er im Turm saß und die Welt nicht reinlassen wollte. Nur ab und an zwang ihm ein edler (oder wenig edler) Besucher, ein Gaffer des vermeintlichen Unglücks, eine Handschrift ab, ein Gedicht. Und Hölderlin schrieb über die Jahreszeiten. Über Jahrzehnte schrieb er immer wieder nur und ausschließlich über den Lauf von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Ich hatte immer Zugangsschwierigkeiten bei des Dichters Poemen, mir fehlte das richtige Billet für seine hochgezüchteten, graezisierenden Hymnen und Oden, mit denen er heute noch die Philologen beglückt, als ich aber eines Tages die späten Gedichte las, die man in den frühen 90ern noch suchen musste, war ich hingerissen. Und fragte mich gleich, ob ich das nur sei, weil der arme Hölderlin mich in seinem Irresein so sehr faszinierte. Waren das denn wirklich gute Gedichte? War das nicht eine erbärmliche Zerfallserscheinung?
Ich las diese Arbeiten über die Zeit immer wieder, und gerade vorgestern lagen sie erneut eisklar vor mir: es gibt aus dem 19ten Jahrhundert keine anderen dieser Qualität. Kühl, sternennah, von einer metallenen Todesahnung durchzogen, mit einem Blick auf die Welt, der nicht mehr von der Welt ist. Große Kunst bis auf das Mark reduziert. Sicher auch aus einem in sich mäandernden Geist hervor gebracht, aber doch formvollendet.
Der brave Hölderlin, in seinem Turm im schrecklichen Tübingen, mit kurzen, in die Stirn gekämmten Haaren. Nach Façon der Mode ganz veraltet die Frisur. Dabei hatte er jenen revolutionären Schnitt getragen, der in Frankreich kurz nach 1789 kreiert wurde, der das Erkennungszeichen der Les Incroyables war, den Dandys der neuen französischen Zeitrechnung („7. Brumaire im Jahre III“). Man raffte den Zopf des verachteten Ancient regime über dem Kopf und kappte ihn mit einer groben Schere, so dass das Schädeldach nur noch Stoppeln trug und die restlichen Locken an den Schläfen hinab hingen. Auch Novalis trug seine Haare in diesem Stil. Fichte in jungen Jahren ebenso. Das waren alles Punkrocker der Frühromantik.
Und jetzt tappte Hölderlin voller Unrast in seinem Turmzimmer hin und her und hatte eine verspätete, bonapartische Frisur. Wie sie auch ein schmallippiger Chevalier hätte tragen können.
 
Währenddessen hier in meiner Kammer Chansons von Georges Brassens laufen. Ein parisblauer Abend könnte das heute sein. Draußen dickt die Nacht ein, und in die Oberfläche der Seine fädeln sich die Regenschnüre. In das Selbstmordwasser.
Hinten, jenseits der blechbezogenen Dächer, hustet der Eifelturm seine bonbonfarbenen Lichtkaskaden in den Konfettihimmel, eine Kooperation von Pissarro und Van Gogh (der alte Holländer).
Nein, nein, draußen wimmern nur Berliner Katzen, und der Himmel ist ganz und gar Rammstein und Udo Jürgens.
 
Brassens habe ich lange nicht mehr gehört, aber ich durchstöberte letzte Woche in einer schwarzen Nacht das Internet und fand ein paar Videos von ihm auf Youtube. Was für eine Gestalt, was für ein Held meiner frühen Berliner Jahre.
Ich hörte ihn zum ersten Mal auf dem Kassettenrecorder meines Bruders, in einer muffigen Wohnung nah des Südsterns. Ich war gerade aus der Provinz gekommen, und mein Bruder hatte mir nicht nur einen Lyrikreader der Freien Universität in die Hand gedrückt, in dem ich Grünbein fand, Happel, Kling, Rosenlöcher (Schneebier!), sondern mir auch Musik vorgestellt, die ich nicht kannte: Brassens, Vissotzky, Lewschenko.
Zusammen mit den Platten von Suicide, Wire, Charlie Parker, Schubert und Element of Crime wurde das mein Soundtrack für die Großstadt. (Fahrten in der U-Bahn unter den Resten der Mauer hindurch, echte Proletarier mit Flaschen voller Bärenquell – das Sternburg der Nachwendezeit).
 
Vielleicht sollte ich mir auch so eine Schnurbart stehen lassen, wenn ich mir schon nicht den Zopf absäbele wie Herr Hölderlin?
Aber damit sähe ich nicht wie ein französischer Chansonier aus, sondern eher wie ein missglückter Cowboy. Wobei: auszusehen wie ein missglückter Rinderhirte, wäre natürlich auch nicht schlecht.
 
Oder ein Vollbart, wie ihn sich Björn Kuhligk und Jan Kuhlbrodt gerade haben wachsen lassen. Aber das juckt ja fürchterlich. Nein, ich bleibe bei Koteletten. Für einen Bart bin ich zu romantisch. Ich bin glatt rasiert und incroyable. Diese Bärte sind so Gründerzeit.

Sonntag, 12. August 2012

 
(Scheußlich sind die Tage unter dem Virenmond. Fett ist mir die alte Erkältung in die Glieder gekrabbelt, festgebissen hat sie sich wochenlang. Erika Fuchs würde übersetzen: Hust, hust, schnief, schnief, hatschi.
Sicher schon der siebte oder achte Infekt in diesem Jahr. Es verfolgt mich dieses leichte Fieber, seit meine Mutter mich ausgespuckt hat. Ich erinnere Schnee im grauen Raum hinter meinen glühenden Augenlidern, ein Gekrissel, das sich auf das ICH legte und es eindeckte nächtelang.
Schon wieder war ich zwei Woche in dieser zeitlosen Welt der Krankheit eingewickelt, und in mir schwappte eine Sehnsucht nach Sanostol empor. Nur schade, dass man sich als ausgebildeter Vater nicht einfach hinlegen kann, dass man vielmehr dem Kind schlapp hinterher hetzen muss, denn das Kind ist nur ein Überträger, das Kind wird nie krank, weil das Kind einen gesunden Lebenswandel hat, und nicht raucht, und nicht trinkt).
 
Hier bin ich also wieder, zwar mit einem Ziehen und Zwacken in den Gliedern, mit einem entfernten, hölderlin-artigen Frühlingsgefühl in den Knochen, aber noch haben sie mich nicht in den Turm gesteckt.
Ich las die letzten Tage wieder – nach Jahren – seine späten Gedichte, die mich schon hingerissen haben, als ich Zwanzig war. Damals wollte ich meinem eigenen Urteil nicht trauen; ich fragte mich: hat das nicht ein Wahnsinniger geschrieben, ein Mann, dem die Synapsen durchgebrannt sind; sollten nicht die früheren, die klassischen Gedichte besser sein, kann man diesen ewigen FrühlingSommerHerbstUndWinter denn lieben?
Jetzt lese ich sie wieder, die letzten Verlautbarungen des guten Scardanelli, und es schlägt mir mitten ins Herz, schlägt gegen den Takt meiner Herzschläge an.
So eine eisige Klarheit, so ein fokussieren auf die unwesentlichen, auf die echten und übersehenen Dinge, das ist es, was diese späten Hölderlin-Gedichte ausmacht. Während der Herr Hölterlein ausgemacht war... von seiner Welt, Umwelt, Umbra Vitae. Er musste nur mal schnell austreten (das Aas treten), musste nur mal schnell neben sich her treten, in die Welt hinein treten, ganz andere Wege gehen. Und kritzelte ab und an auf Papier, so wie es gut hundert Jahre später der Herr van Hoddis tat, dem man die Papiere wegnahm, von dem nichts scardanelli-artiges übrig blieb, weil seine Lehnsherren in den Irrenasylen nichts von dem Gekritzel verstanden. Sie haben es nicht vernichtet, sie haben es einfach nur weggeschmissen, kurz bevor van Hoddis nach der Vorhölle verschifft wurde.
 
Ich las das auf einem Kindle (mein neues Interface in die Gutenberg-Galaxis), und es war ganz umsonst, dieser Text, diese Poesie. Die ich mir herunter lud für UMME (Hölderlin nimmt die WUMME und lässt dein Gehirn an die Raufasertapete des Turmzimmers spritzen. Spritz, spritz).
Ah, das schönste Spielzeug, ein E-Book-Reader (don´t follow leaders, watch the e-book-readers). Ich bin so glücklich und begeistert am Anfang dieses Umbruchs zu stehen, in einem Zeitalter zu leben, das es mit dem Gutenbergs aufnehmen kann. Ich habe eine Luther-Bibel in den Händen (89 Cent im Kindle-Shop), ich werde dabei gewesen sein, zu dem Zeitpunkt werde ich dabei gewesen sein, an dem die Welt eine andere wurde, als die größte intellektuelle Revolution des 21ten Jahrhunderts begann. Ihr werdet sagen: Voß, haben wir es nicht auch eine Nummer kleiner. Und ich werde sagen: Nein, ihr Ignoranten.
Ich werde auf eure Bücher spucken. Im Licht meines Kindle-Bildschirms.
 
Jetzt muss ich wieder husten, der Schleim löst sich schwerfällig, die Nacht ist auch erkältet – Sommer, wer bist du, dein Gesicht habe ich lange nicht mehr gesehen. Nenn mich Herbst, mein Junge, ich habe Stoppeln aus gelbem Kraut im Gesicht, meine Füße sind kalt und rau, meine letzte SMS geht an die kalte Schlampe Winter.
 
Aber es war ein schöner Tag, auch wenn ich Hitzewallungen hatte, hochgedrückt im Körper vom letzen Aufflammen des Fiebers.
Wir saßen am Wahnsee, wir waren auf einem Fest. Meine Frau hustete wie Franz Kafka im Frühjahr 1924. Aber das Kind, der Überträger, das war glücklich. Es lief mit den anderen Kindern unter Kastanien und Eichen zum Ufer. Von der Terrasse aus beobachtete ich ihn, schaute zu ihm hin, sah den kleinen, blonden Jungen, wie er von den größeren Kindern getragen und herum gewirbelt wurde, sah, wie er lachte und glücklich war.
Das Kind stand an einem alten Baum und zählte bis Zwanzig. Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein. Ich komme!
Und die Nacht senkte sich ganz langsam, und der See glitzerte ein letztes Mal, und die Kinder sprangen in die Dämmerung.
Und ich musste an Kafkas Buch „Betrachtung“ denken, und dass diese erste Miniatur dort das atemlose, sommerwarme Gefühl von elternlosen Kindern besser beschreibt, als ich es je könnte. Das Gefühl von Sand unter den Füßen, den Eindruck, den die Schattenrisse vor dem letzten Licht machen. Am See schwanken die Segelboote auf der dunklen Fläche, und die Takelagen machen dieses Geräusch, für das es noch kein Wort gibt. Die Eltern sind weit entfernt, man hört sie kaum, nur ein verwehtes Lachen und Tuscheln. Hey, dort ist ein Zaun, und in dem Zaun ist ein Loch. Ob es dahinter wohl in eine andere Welt geht?
Ich sah mein Kind, und ich sah, dass es glücklich war, und deswegen war ich glücklich.
Ich stand auf der Terrasse und aß Roastbeef, und dort drüben, gleich hinter dem nächsten Yachtclub, da hatte Kleist ein Verhältnis mit einer Pistole gehabt, und ein Stück weiter, im kalten, kalten Winter hatte Heym nicht aufgepasst.
Aber mein Kind leuchtete mit seinen blonden Haaren in die Nacht hinein. Und war ein Leichtturm des Lebens.

Mittwoch, 22. August 2012

 
Seltsam, dass das Leben im mittleren Alter so gleichförmig wird. Besonders wenn die Zeit nicht schneller vergeht, mit ablaufenden Jahren, so wie sie es alle immer berichtet haben.
Stattdessen ist meine Erinnerung ein gleichförmig blubbernder Fluss ohne Stromschnellen. Das liegt an meinem Gehirn, an der Verschaltung, die mir vererbt wurde von den Jägern und Sammlern, deren genetische Reste sich in meinem Selbst, meiner ADHS-Steuereinheit, versammelt haben (am Lagerfeuer, der blitzenden Synapsen meiner Großhirnrinde).
 
Demletzt haben DIE FORSCHER (so Kittel tragende Eierköpfe mit schwerem deutschen Akzent... there is an alien on your roof, I have to warn you) heraus gefunden, dass bei ADHS-Schlümpfen, bei den ganz Kleinen also, die Zeit anders verläuft, sich gleichförmiger ausdehnt, als bei den anderen Kindern im großen Kindergarten unter Gottes weitem Himmel.
 
Mir ist das nichts Neues. Schon immer lief mein Film mit der gleichen Bildanzahl, kein Zeitraffer setzte ein, mit zunehmenden Alter.
Aber leider werden auch die langweiligen Phasen im Rückblick nicht zum Schrumpfen gebracht. Andererseits erfahre ich so das Satori an jedem späten Sommernachmittag, den Zustand also, nach dem die Vormittagsmenschen immer noch Ausschau halten.
 
Trotzdem: diese Gleichförmigkeit ist gewöhnungsbedürftig. Ich lebe seit vier Jahren, seit Jahrhunderten also, in ein und derselben Straße, sitze in der selben Kammer (mit Blick in den selben, immer und fortwährend dunklen Garten) und schreibe Papier voll (virtuell).
Vor gerade mal sieben Jahren ist mein erstes Buch publiziert worden, und ich fühle mich, als wäre dieser Anfang meines Werks kanonisiert, abgehakt und ausgebuht... vor langer, langer Zeit.
 
Und all die toten Geister, die mich umgeben; waren die schon immer hier? Kaum zu glauben, dass mir noch genauso viele Jahre bleiben, vielleicht mehr.
Wenn ich dann wieder ein anderer Mensch geworden bin, in dreißig oder vierzig Jahren, werden die ersten Menschen auf dem Mars sein, und ich nicht dabei, weil ich alt geworden sein werde, ein Jäger am Feuer, hingelagert, mit einer Sicht auf die Dinge, die hinter ihm liegen. Ein langer, sommerlicher Spätnachmittag.
Der Geist meiner Großmutter wird die Goldfäden der Sonne im Wintergarten sortieren, meine Mutter sich eine Zigarette drehen. Der Vater wird „Prost“ sagen und „Schön, dass du auch endlich da bist“.
So ein langer Nachmittag. Aber so mild.

Freitag, 31. August 2012

 
Was alles schon verschwunden ist, auf den Straßen, in den Höfen, hinter den Häusern.
Rote Hydranten aus Eisen, Teppichklopfstangen, Mülltonnen aus Blech mit der Aufschrift „Keine heiße Asche einfüllen“. Photos in Schwarzweiß, aufgenommen von gestorbenen Müttern mit Instamatic-Kamera. (Aber dieses Format gibt es ja wieder, es heißt Instagram und ist eine Applikation in der anderen Realität).
Nicht erhaltenswert, die Einzelheiten meiner Kindheit. Stattdessen haben die öffentlichen Wasserpumpen aus der Zeit meiner Großeltern überlebt. Alle Fassaden frisch gestrichen. Nur hinterm Grazer Platz stehen noch Mietskasernen, grau und beruhigend, ein Ausblick in die Vergangenheit. (Dort wird Übermorgen eine Solidaritäts-Veranstaltung für einen Rabbiner stattfinden, der vor drei Tagen schwer geschlagen wurde, zwei Straßen weiter, von Judenhassern, die auch hier wohnen, in meinem Kiez, der mir so kindergleich unschuldig vorkam, die letzten Jahre. Merkwürdig ist: ich hab den Rabbi Daniel Alter nie bemerkt, obwohl wir nahezu Tür an Tür seit Jahren hier zusammen leben).
Auch verschwunden: Wikingjugend. Gottseidank. Ich erinnere diese kleinen, bösen Kinder, von ihren Eltern auf den falschen Weg gesetzt, wie sie seinerzeit in Lüneburg, in der Nachkriegszeit der 70er, zur Sonnwendfeier durch die Wiesen zogen. Auch verschwunden: Männer mit weggeschossenen Armen, in grauen Freizeit-Anzügen und mit schmalkrempigen Hüten auf den schwer durchkämpften Häuptern. Die krieg ich nicht aus meiner Erinnerung heraus. Die kommen immer wieder in meine Texte rein marschiert. Die waren so harmlos und 1942 junge Burschen, an der Front, oder in Babij Jar. Gottseidank weg, diese Alptraum-Gestalten in den Gassen.
Aber zugleich gab es auch banale Dinge, an die ich mich erinnern kann, denn ich war ja ein Kind, nichts weiter, nicht besonders weltgewandt, unbeleckt vom Krieg.
Verschwunden sind auch die Zeichenschablonen in den Deckeln der Nutella-Gläser, die einzelnen Pfeifen in den Cornflakes-Packungen, die man zu Panflöten zusammen setzen konnte, wenn man in einem halben Jahr zwölf Schachteln Cornflakes aufgegessen hatte.
Abgebaut auch die Telefonzellen, die öffentlichen Fernsprecher, durch deren gläserne Schächte die Groschen rollten, sichtbar für den Anrufer. „Fasse dich kurz“.
Und der Schnee lag höher und war weißer. Die Freibäder hatten gefährlichere Zehn-Meter-Bretter, und die Wespen dort waren gelber. Und ich war mehr Kind als heute.
 
Wieso ist mein Hirn so gebaut, dass ich mich immer erinnern muss, immer zurück in die Kindheit rutsche? Aber diese Gehirnstruktur mag der Grund sein dafür, dass ein Dichter aus mir werden musste. Denn in dem Moment, in dem ich mich zu erinnern begann, ich war Zwölf und kein Kind mehr, fing ich an zu schreiben. So bin ich ein Knecht meiner Erinnerungen geworden. Doch sie werden vergehen, ausgelöscht sein im Moment meines Todes. Zurück werden nur bleiben: Wasserpumpen, Gehwegplatten, vereinzelt Blumenkübel aus Waschbeton. Und natürlich Jüngere mit anderen Erinnerungen, an Parkuhren (die nicht mehr nach Parkuhren aussehen), an Shopping-Malls, an öffentliche Internet-Bildschirme in der Amerika-Gedenkbibliothek, die eine Generation später auch verschwunden sein werden. Alles nur ein Gleichnis. (Wer allein lebt, lebt auch im Geheimnis).

Dienstag, 4. September 2012

 
Kafka. Ich beschäftige mich in letzter Zeit wieder intensiv mit Kafka.
Lese in seinem Band “Betrachtung”, durchstöbere Skizzen in seinen Oktavheften, traue mich nicht so recht an seine Romane, die ich in meiner Jugend alle abgebrochen habe (da es sich um Fragmente handelt, ist das ja auch nicht so schlimm - und hier bin ich fast verleitet, die feine Ironie zu kennzeichnen, die in diesem Land so schlecht verstanden wird).
Gerade las ich in einem Buch mit Anekdoten über Kafka (R. Stach: “Ist das Kafka?”) die Broskwa-Skizze, die mich sehr beeindruckt hat, und die ich Lust hätte weiterzuführen. Aber wäre das nicht völlig sakrosankt? Kafka fortschreiben? Ich würde geschlachtet werden vom Feuilleton, die Rezensenten würden mir einen Apfel in den Rücken werfen. Die Lektoren sowieso.
Zu der Broskwa-Skizze gibt es eine hübsche Geschichte. 2007 schickten die Macher der Literaturzeitschrift “Edit” diesen halbseitigen Text an vier bekannte Verlagslektoren. Die hatten viele, viele Verbessungsvorschläge… naja, vielleicht hätte Kafka ihnen zugestimmt, er war ja geradezu fanatisch selbstkritisch.

Ich erinnere mich nur vage des Zeitpunkts, an dem ich zum ersten Mal eine Erzählung Kafkas las. Es war “Das Urteil”, ich vermutlich elf oder zwölf Jahre alt und völlig ratlos, aber auch ergriffen. Die Szenerie in dem zwielichtigen Hinterzimmer, dann auf der Brücke, ging mir Jahre nicht mehr aus dem Kopf. Wenig später las ich “Die Verwandlung” und war hingerissen, gepackt und durchgeschüttelt. Die Landarzt-Prosa allerdings langweilte mich, und durch den Process konnte ich mich nicht durchkämpfen, wenn mich auch die Szene auf dem Speicher sehr beeindruckte, sie in meinen Träumen wiederkehrte.

Auf Kafka kam ich durch Gustav Meyrink (den ich mir justamente auf meinen Kindle geladen, nachdem ich ihn, im Gegensatz zu Kafka, rund dreißig Jahre nicht mehr gelesen habe; schon die ersten Zeilen des “Grünen Gesichts” kamen mir unheimlich vertraut vor), mein älterer Bruder hatte mir Romane des Phantasten geliehen, ich las sie mit großer Leidenschaft. In einem der Bücher war wohl eine kurze Biographie Meyrinks abgedruckt, dort erfuhr ich von Franz Kafka, fand später ein Fischer-Taschenbuch des Titels “Das Urteil” im väterlichen Bücherregal und begann zu lesen.
Ich glaube Kafka war der erste ernsthafte Literat, den ich las. Und losgelassen hat er mich nicht mehr.

Es ist merkwürdig. Obwohl ich seine Bücher Jahre nicht mehr hervor holte, hing doch fast immer ein Photo von ihm über meinem Schreibtisch (das Berliner Porträt von 1924).
Merkwürdig auch, dass ich mich Kafka schon immer geradezu persönlich nahe fühlte, schon als Kind und jetzt noch immer. Merkwürdig, weil Kafka scheu war, trotzdem ihn jeder leiden mochte (ich hingegen bin vorlaut, großkotzig, rechthaberisch). Er rauchte nicht, trank, von seinem letzten Jahr abgesehen, kaum einmal ein Bier, lebte Gesund, trieb Sport, ernährte sich gut - kurz: war ein agiler, freundlicher Mensch, der der Lebensreform-Bewegung zuneigte. (Wobei, zuneigen tue ich ihr auch, ins Besondere der des Monte Veritas, aber im wirklichen Leben trinke und rauche ich zu viel, schlafe unregelmäßig, esse nicht sonderlich ausgewogen).
Hätte ihn nicht die Schwindsucht dahin gerafft, wäre er sicherlich 80 oder 90 Jahre alt geworden, und vielleicht erst zu meinen Lebzeiten gestorben, 1973 zum Beispiel, hätte die Hippie-Bewegung mitbekommen, die Beatniks, Rock’n’Roller… Nazis. Ich befürchte, Kafka wäre 1939 in Berlin ansässig gewesen und auch dort geblieben. Doch vielleicht wäre auch sein alter zionistischer Wunsch durch die braune Pest verstärkt worden, und er hätte sich schon 1934 nach Haifa eingeschifft. Hoffentlich.

Ich bin nicht sicher, ob ich mich mit ihm gut verstanden hätte, aber es wäre schön gewesen, ihn kennen zu lernen.

Mittwoch, 5. September 2012

 
Vielleicht hat die TBC dem Doktor Kafka aber auch sieben Jahre Lebenszeit geschenkt, und uns unter anderem "Das Schloss", "Ein Hungerkünstler" und "In der Strafkolonie", denn was wäre gewesen, wenn die Kranktheit 1917 nicht endgültig ausgebrochen wäre? Man hätte Franz K. an die Front geschickt.
Zwar war er in den ersten Jahren des Krieges noch als "unersetzliche Fachkraft" unabkömmlich gestellt - auf Bitten seines Vorgesetzten, und gegen seine eigene Intension - aber schon 1915 wurde er als militärisch "voll verwendungsfähig" eingestuft, und es hätte sicher nicht mehr lang gedauert bis zu seiner Einberufung, wäre er nicht 1917 so schwer erkrankt.
Also hat ihn die TBC möglicherweise vor dem Tod an der Front bewahrt.

Vielleicht aber hätte er auch in der Etappe, in einer Schreibstube dort, überlebt. Und danach den ersten großen Anti-Kriegsroman geschrieben. Möglich wäre auch gewesen: er wandert 1912 nach Palästina aus, das Klima dort unterstützt die Ausheilung seiner Lunge, er lebt in den nächsten Jahrzehnten in einem Kibbutz und publiziert bis zu seinem Tode 1975 acht sonnendurchtränkte, lebensbejahende Erzählungen. Letzteres allerdings ist schwer vorstellbar.

Oder er heiratet im November 1917 die schöne Tilka Reiß, die er ein Jahr zuvor kennen gelernt hat, zeugt vier Kinder (zwei Buben, zwei Mädchen; eine wird später die legendäre Malerin und Weltreisende Franziska Thylia Kafka-Blomstedt), seine TBC wird durch Spontanheilung kuriert (unterstützt durch den Magnetisieur und Spiritist Dr. Valboni-Eisenhans), die Familie emigriert 1935 in die Schweiz (zusammen mit Kafkas Schwestern), Franz bekommt 1938 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen, und alle leben glücklich und zufrieden am Genfer See. Und wenn sie nicht gestorben sind...

Montag, 17. September 2012

 
Ein Sonntag im Volkspark Potsdam. Die letzten Spätsommer-Tage, und das Kind hatte mächtigen Spaß, während Meike und ich mit mittleren Erkältungen hinterher zockelten - ich war ja schon immer anfällig für Infekte, aber dieses Jahr sind es geradezu die sieben Plagen geworden. Das permanente Ausgelaugt sein hindert mich am Arbeiten. Dabei muss ich umgehend zwei Manuskripte fertig lektorieren.
Stattdessen schlapp in Potsdam. Auf verschiedenen Spielplätzen dort im Park, kurz vor der Rückfahrt auch noch bei den Riesenrutschen. Mördergeräte. Tristan traute sich eine der meterlangen Röhren runter zu fahren, während ich unten stand, um ihn aufzufangen (Meike oben, damit er die richtige Rutsche nahm). Mit schreckgeweitetem Blick kam er mir entgegen geschossen, unser beider Herzen machten einen Satz, dann raste er in meine Arme und fing an bitterlich zu weinen. Kinder-Spielgeräte in den Zeiten von Bungee-Jumping. Lebensgefährlich.a

Später auf dem Parkplatz schaute ich in den grell blauen Himmel, auf die leuchtend grünen Hecken, und irgendetwas brachte das in mir zum Klingen. So einen Parkplatz schien ich schon einmal in meiner Kindheit gesehen zu haben. Ich stieg in den Fond des Wagens, und es war, als würden vorne meine Eltern Platz nehmen, die aufgeheizten Sitze nach Ernte 23 und aufgeheiztem Plastik riechen, das Meer weit entfernt rauschen, die Möwen kreischen.

Meine Frau startete den Motor und wir fuhren zurück in die Gegenwart, an prachtvollen Villen vorbei, russischen Holzhäusern mit geschnitzten Veranden, Schlössern, Parks, Sonnenschein.
Zu guter Letzt: Stau in Berlin.

 

Parkplätze haben sowieso immer eine merkwürdige Magie auf mich ausgeübt. Die weite Fläche, die stillen Autos, der große Himmel darüber. Meistens brennt in meiner Erinnerung die Sonne auf den Asphalt, ich komme mit Freunden aus einem Intermarché, und wir haben die Arme voller Weinflaschen und Zigarettenstangen (eine einzelne Packung Gitanes Mais in der Hosentasche), wir gehen zum Landrover und werfen einen Haufen Gauloises Blondes und Camel Filter in den Kofferraum, denn die Deutsch-Französische Grenze ist zum Badischen hin recht durchlässig geworden in letzter Zeit.
Oder auf dem Weg nach Berlin, über die Interzonen-Autobahn. Wir biegen mit irgendeinem geliehenen Golf auf den Parkplatz einer Raststätte (aus gelben Klinkersteinen, erbaut vermutlich noch in den 30er Jahren). Einzelne Wartburgs und Trabanten stehen in ordentlichen, aber löchrigen Reihen vor dem Gebäude, die kalte, klare Wintersonne lässt die Luft über der Betonfläche in einer Welle aus Licht aufschäumen.
Oder der Parkplatz in Scheveningen, direkt an den Dünen. Der feine Sand, der Geruch von Salz, der glänzende Wasserspender am Weg zum Strand. Möwen, Möwen, das Rollen der Dünung. Das Klopfen der Motoren.

Montag, 24. September 2012


Im Radio eine verlogene Sendereihe über den Tod mit dem verlogenen Titel "Leben mit dem Tod".
Da lässt man Schulkinder berichten über ihren gelungenen Projekttag, der das Ableben behandelt. Da wird geredet von Hamstern und Omas. Und von Tanten im Altersheim. (Von Vettern im Turm).
Die Sprache in den Medien verdeckt die Dinge in einer Totalität, die man schon fast Lügen nennen möchte. Und wenn sie die Dinge nicht verdeckt, verdreckt sie sie.
Danach eine Ratgebersendung für Musiker: Wie nutze ich Facebook und Consorten zu Werbezwecken? - Der erste Tip: nicht nur Veranstaltungen posten, sondern auch mal eine Frage stellen. Ja! Wir werden alle zu Digital Natives, gleich morgen.
Und übermorgen dann wieder der Tod.
Nicht das er mir neu wäre, das es mir neu wäre, dass ich verschwinden werde, wie all die anderen  vor mir. Trotzdem packt mich täglich die nackte Panik, wenn ich an das Sterben des Ichs denke. Und ich könnte in Thränen ausbrechen, über all die Menschen, die dahin geschieden sind, verblichen, verweht in den Jahrhunderten, Jahrtausenden, Jahrhunderttausenden zuvor. Jeder einzelne, mit einem Universum aus Synapsen im Kopf. Alles Staub. Alles dahin. Keine Spur übrig. Vielleicht noch ein unleserlicher Taufeintrag im Kirchenregister, ein Grabstein vielleicht - doch meist sind die ja nach ein- zweihundert Jahren abgeräumt, die Daten mit dem Meißel ausgelöscht. Alles ist eitel.
Nur die, die sich einen Namen machten, sind als freundliche Geister noch unter uns. Catullus, Walther, Gryphius, Hölderlin.
Denn deshalb schreiben wir doch: um zu überleben. Damit unsere Namen nicht vergessen seien, wenn schon der Körper, wenn sogar (möglicherweise) das Ich wird sterben müssen.
Und wir sitzen im Turmzimmer und kritzeln die Blätter voll, schreiben Merkwürdigkeiten über Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Setzen unseren Namen darunter (der seltsam italienisch klingt), datieren: den 9ten März 1940.
 
Wieder und immer wieder lese ich Hölderlins späte Gedichte, die vermutlich nur so zu bannen vermögen, weil sie ein vermeintlich Irrsinniger geschrieben hat. Tübingen, im Turm. Draußen der zerrissene Himmel, das Gewimmel der Sterne, der gleiche Tag seit Jahrtausenden. Und immer präzise mit Datum versehen, die letzten Gelegenheitswerke.
Wenn man die späten Gedichte in einem Zug liest, fällt einem auf, fällt mir auf, dass einzelne Datierungen immer wiederkehren, über Jahre hinweg. Rund zwanzig Gedichte sind von Hölderlin/Scardanelli datiert worden, darunter allein vier mit dem 24. Mai 1748, drei mit dem 24. Mai 1758. Ein weiteres mit 24. Mai 1778. Auch der 24. Januar taucht auf, ebenso der 24. März, der 24. April.
Was hat das zu bedeuten? Was will Hölderlin mir mitteilen? Was ist geschehen am 24. Mai? Denn irgendetwas muss doch an diesem Tag geschehen sein, sonst würde man das Datum nicht immer wieder hinschreiben, über Jahre hinweg.
Ich kann zu dieser Frage im Netz nichts finden, in der Secundärliteratur auch nicht. Hat dort draußen jemand eine Idee? Wurde das alles bislang übersehen? (Kaum zu glauben).
 
Hölderlin - Der Winter
       
Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet
Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.
       
Der Erde Stund ist sichtbar von dem Himmel
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
Und geistiger das weit gedehnte Leben.

Samstag, 29. September 2012

 
Was ich mich immer gefragt habe: wieso weinen Kinder mehr als Erwachsene?
Ein Kind weint bei den verschiedensten Gelegenheiten, schämt sich nicht seiner Thränen, läßt sich von Schmerz, Trauer, Unlust, Zorn, von Neid, von Enttäuschung zum Weinen bringen.
Plötzlich aber, mit der sogenannten Pubertät, versiegen die Tränen fast ohne Übergang. Nun könnte man sagen, das sei eine Frage der Erziehung, aber wenn ich mich zurück erinnere, kann ich das nicht als Wahrheit erkennen. Vielmehr machte sich eine andere Art von Bewusstsein in meinem Selbst breit, das eben nicht mehr zu allen Anlässen weinte, das seither nur bei den großen Lebenskatastrophen verleitet war, Tränen zu vergießen. Und es scheint mir, als wäre das bei den anderen Menschen in meiner Welt nicht anders.
Ist das ein modernes Phänomen? Oder hat sich wenig geändert über die Jahrhunderte? Es schaut so aus, als würde es keinen Unterschied machen. Es weinen nur die Kinder. Und das ist ja auch eine gute Eigenschaft, denn das Weinen reinigt, zieht die Schleier des Zorns, des Neids, des Schmerzens beiseite.
Wieso also vergießt der ausgewachsene Mensch nur noch so wenig Tränen?
Ich kann mir keinen Reim darauf machen, nur dass dieser Bruch das größte Mysterium des Erwachsen werdens ist, daran besteht für mich kein Zweifel.
 
Wie oft habe ich als Kind geweint, auf der Kante meines Bettes sitzend, wie selten weine ich noch im Angesicht der Berge von Leid, die sich seitdem vor mir aufgetürmt haben.
Aber vielleicht ist die Antwort ganz einfach: ein Kind braucht Schutz, und nichts bringt die Erwachsenen mehr dazu ein Kind in Schutz vor all dem Leid zu nehmen, als eben das Weinen dieses Kindes. Als Erwachsener steht man dann alleine. Weinen ist nicht mehr nötig. Denn Schutz gibt es nicht mehr. Hinaus geworfen in das Leben, mit trockenen Augen, zurück gelassen in der Welt.

Dienstag, 2. Oktober 2012

 
 
(Ein Gläschen Südwein neben meinem Notebook. Südwein, Süßwein, Desertwein – schöne, gluckernde Worte. Im Moment trinke ich einen Spätburgunder gemischt mit Sherry. Ich weiß, das hört sich barbarisch an, schmeckt aber gut).
 
Was mich immer schon gewundert hat ist, dass sich alle – jedenfalls die Leute in den üblichen Medien – darüber beklagen, dass die Geburtenrate in Mitteleuropa schwindet. Ich kann das Problem nicht erkennen, vielmehr ist das doch ein unfassbarer Vorteil für den Kontinent, der seit dem letzten Jahrhundert deutlich überbevölkert ist. Alle Landschaften sind zersiedelt, durchschnitten von Myriaden von Straßen, zugepflastert und versiegelt mit Beton und Asphalt.
Noch in meiner Kindheit, selbst noch zu der Zeit, als ich nach Berlin kam, waren die Städte umgeben von Brachland, Wiesen, Wäldern. Unbehauste Natur. Jetzt stehen dort Einkaufszentren und Baumärkte. Wenn endlich wieder, in dreißig, vierzig Jahren, Europa leerer wird, könnten wir ganze Landstriche der Wildnis zurück geben. Endlich Platz.
Stattdessen jammern alle über die Rente. Aber wenn durch den Rückgang der Bevölkerung auch die Kaufkraft schwindet, werden die Waren des täglichen Lebens durch mangelnde Nachfrage wieder günstiger werden. Und die Renten werden sogar dazu reichen, ein Haus in Brandenburg zu kaufen, denn diese Häuser in den verlassenen Dörfern werden schon in zwanzig Jahren kaum mehr als zwei, drei Monatsgehälter kosten.
Aber anstatt dass diese Gesellschaft die Möglichkeiten der Leere nutzt, baut sie weiter.
Zur Zeit ist eine Initiative entstanden, die die Leerflächen des Kulturforums am Potsdamer Platz schließen will. Sowohl die Matthäuskirche als auch die Neue Nationalgalerie sollen von Blockbebauung eingefasst werden, und auch das weite Areal vor der Gemäldegalerie soll weichen. Als hätten die Alten Angst vor der Leere, der Weite, als würde es sie an ihr eigenes Verschwinden erinnern.
Wieso erfreuen wir uns nicht an der Leere, lassen auch Brachflächen wieder zu, die fast alle seit der Wende verschwunden sind. Kein Mensch braucht all diese Büros.
Und selbst wenn wir uns das in den Städten nicht leisten wollen, weil die Alten günstige Infrastruktur brauchen; auf dem Lande könnten wir die Wildnis zurück kehren lassen. Man würde ganze Dörfer in der Uckermark räumen, die letzten Bewohner in den Speckgürtel von Berlin umsiedeln – zahlt man den Leuten ein wenig Geld, wäre das kein großes Problem. Die ganz Alten sterben bald, die Jüngeren wollen lieber heute als morgen weg, wenn sie es sich leisten können.
Und sollten dann die Dörfer der Uckermark geräumt sein, wird das ganze Gebiet umzäunt (ein freundlicher Eiserner Vorhang) und hinein kommt man nur ohne Motor-Fahrzeuge, ohne den Plunder des modernen Lebens. Zu Fuß oder auf dem Pferd darf man dann in das neue, unbekannte Land ziehen. In die WÄLDER.
Wölfe gibt es dort ja schon; man könnte noch Luchse ansiedeln, ein paar Wisente, ein paar Großtrappen. Der Wald wäre sich selbst überlassen, und schon nach fünfzig Jahren sähe es in dieser Zone aus, wie im frühen Mittelalter. Ein Dickicht, ein Märchenwald, eine Wildnis.
Und dort würde ich gerne meinen Lebensabend verbringen, in einer Blockhütte, an einem See. Der Himmel weit und klar, die Tannen ein einziges, dunkles Rauschen, und in der Nacht heulen die Wölfe.
Es hört sich romantisch an, es scheint ein weltabgewandter Traum zu sein, aber es wäre möglich, noch zu unserer Lebenszeit.
 
Stattdessen der nächste Baumarkt, das nächste Maisfeld für die nächsten Großraum-Autos. Wachstum, Fortschritt, Niedergang.

Freitag, 19. Oktober 2012

 
In den letzten Tagen hat (mein Sohn) Tristan viel über den Tod nachgedacht. Und dann kam ihm in den Sinn, so erzählte er mir, dass man wiedergeboren wird, und dass im nächsten Leben ich vielleicht seine Mutter werden würde, und er und seine jetzige Mutter wären meine Kinder. Aber vielleicht wird auch, so dachte er vor sich hin, sein Kaninchen Gretchen seine Mutter werden.
Wir haben uns im herbstlichen Garten lange darüber unterhalten, und ich war völlig fasziniert davon, wie komplex ein gerade vier Jahre alt gewordenes Kind schon denken kann. Ihm kommt das doch recht anspruchsvolle Konzept der Reinkarnation einfach so in den Sinn. Es könnte aber andererseits bedeuten, dass sein Denken, seine Vorstellungsgabe gar nicht so begnadet ist, sondern vielmehr beseelt, und dass ihm der Gedanke in den Sinn gekommen ist, weil er sich in ihm als wahr erwiesen hat, weil Tristan mit vier Jahren noch näher an der Pforte seines früheren Lebens steht, diese Pforte noch nicht ganz geschlossen ist, ein Abglanz seines alten Lebens in ihn hinein leuchtet.
Na, dann wollen wir mal hoffen, dass er nicht der nächste Dalai Lama ist.

Sonntag, 4. November 2012

 
Was nicht aufgeschrieben wird, das ist vergessen.
Die letzten Wochen habe ich kaum geschrieben, weder am Blog noch an anderen Texten. Und all die Erlebnisse, die ich jetzt nicht mehr erinnere, die sind in die Unterwelt meines Selbst abgetaucht. Auch wichtige Ereignisse, wie die Lesung von Hallinger letzte Woche, werden mehr und mehr zu Schemen.
Ohnehin eine faszinierende Sache, was sich einprägt und was nicht. Wenn man sich in einem unspektakulären Moment des Lebens vornimmt, diesen sich einzuprägen, funktioniert das sogar. Nachdem ich die Wohnung meiner gestorbenen Mutter geräumt hatte, vor nunmehr fünf Jahren, fuhr ich zum ehemaligen Haus meiner Großeltern, stand lange davor und ging dann zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Dort wartete ich, mit Blick auf die Brücke, die sich über den Stichkanal zur Küste wölbte. Die Statue auf der Brüstung sah noch immer aus, wie meine Großmutter in jungen Jahren mit ihren zwei ältesten Töchtern. Das war schon immer Familienlegende gewesen und hatte sich mir in früher Kindheit eingeprägt, als ich jeden Sommer an dieser Brücke an der Laan van Meerdervoort stand. Die Sonne schien fast golden, der Himmel war weit und holländisch. Und ich prägte mir den Moment ein, dachte kurz über einen Bioladen nach, der am anderen Ende der Straße aufgemacht haben sollte – selbst das erinnere ich noch jetzt – schaute die Gleise entlang. Und seitdem liegt mir diese Szenerie klar vor dem inneren Auge. An das Gesicht meiner verstorbenen Mutter kann ich mich schon nicht mehr so gut erinnern. Hätte ich keine Photos, wäre ihr Antlitz genau nur noch das: ein Antlitz.
Also lasst mich schnell noch über Hallingers Lesung schreiben (mit dem ich zur Zeit eine Partie Schach per Email spiele; er hat mal 1850 Elo gehabt – und er wird mich fertig machen, befürchte ich).
Wir kamen zusammen am vergangenen Sonntagabend im Wedding. Im Parlandopark lasen eine norwegische Dichterin und eben Markus Hallinger, dessen Debütband ich unlängst in der Lyrikediton 2000 herausgegeben habe. Und obwohl ich die Gedichte fast auswendig kannte, ich hatte sie ja lektoriert, verblüfften sie mich erneut, faszinierten mich gesprochen noch einmal mehr.
Gute Gedichte sind das, uneitel und genau, ganz neben der Spur, auf der die meisten Dichter heutzutage fahren. Eigen sind sie. Und der Gedichtband heißt auch so: Das Eigene.
Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch herausgeben durfte.
Die Lesung war gut besucht; in erster Linie waren andere Dichter und Dichterinnen gekommen, was ja eine ähnliche Bedeutung hat, wie vorwiegend asiatisches Publikum in einem chinesischen Restaurant in Berlin: das Essen muss phantastisch sein.
 
*
 
Gerade habe ich nach einem Photo der Statue auf der Brücke gesucht und sie auf der Homepage eines Mannes gefunden, der 1945 in Den Haag geboren wurde und seine Kindheit um die Ecke der Laan van Meerdervoort verbracht hat. Da meine Mutter 1943 zur Welt kam und ebenfalls ihre Kindheit in diesem Viertel verbrachte, auch täglich mit der Tram Nr. 3 von der Brücke abfuhr, ist es fast schon wahrscheinlich, dass sich die beiden kannten, zusammen auf der Straße gespielt haben, vielleicht sogar die selbe Schule besuchten. Auch dieser Mann, Julius Röntgen, schreibt sehnsüchtig über seine Erinnerung an die Statue. So zentrieren sich viele Gedanken um dieses Bild eines Sommermorgens, eines Winternachmittags auf der Brücke, auf der auch ich so oft stand, mit Blick auf die steinerne Mutter mit ihren zwei steinernen Kindern.
Das Internet ist eine Art von Noosphäre geworden, ein Nullpunktfeld, in dem sich alle personengebundenen Neuronen vereinen. Es ist eigentlich der konkrete Himmel geworden, ein Jenseits aus Nullen und Einsen.

Montag, 5. November 2012

 
Ich habe Julius Röntgen angeschrieben. Er hat meine Mutter nie kennengelernt. Die beiden standen niemals Hand in Hand vor der Statue auf der Conradbrug. Es wäre zu schön gewesen, nach mehr als sechzig Jahren so eine Wahre Begebenheit zu entdecken. Aber diese zwei Kinder sind in den späten 40er Jahren aneinander vorbei gelaufen. Sind vielleicht nur das eine oder andere Mal zur gleichen Zeit in die Tram Nr. 3 eingestiegen. Und Julius hat Johanna die Zunge rausgesteckt, und meine siebenjährige Mutter hat mit den Augen gerollt.

Aber für mich ist dieses Gedankenspiel wieder eine Erinnerung mehr. So wie die Lesung von Markus eine Erinnerung mehr ist.

Samstag, 10. November 2012

 
Das Kind spielt Schreibtisch.
Genauer gesagt spielt es Dichter, mit Hocker und Zetteln und blutrotem Filzstift. In der letzten Zeit immer nur Bücher mit Polizei, Polizei, Polizei. Doch so lernt es keine Sachen, das Kind - sagt das Kind zu mir. Derweil ich über den Tod nachdenke und in den heran rauschenden Winter schaue. Derweil das Licht im Zimmer brennt, um fünf Uhr Nachmittags, und das Schaukelpferd nickt, und die Giraffe murmelt: Das bringt doch alles nichts. Vielleicht musst du ein Toten-Gedicht schreiben.
Aber bitte auch ein Polizei-Gedicht soll es werden - sagt das Kind.

Donnerstag, 13. Dezember 2012

 
(Samstag, 8. Dezember 2012, auf dem Weg in die Provinz Baiern)
Auf der Fahrt in Richtung Jena/Paradies schaue ich in die Landschaft, in den Schnee, der sich die letzten Tage über das ganze Land gelegt hat. In den weißen Wäldern könnte man graue, ausgemagerte Wölfe vermuten, in den Schlössern und Herrenhäusern links und rechts der Gleise werden wohl Ritter und bleichhäutige, blutleere Adlige wohnen.
Ein Märchenland wäre das, wenn nur nicht all die Shopping-Malls und Fabrikhallen sich ins Bild schieben würden.
Im Großraumwagen kaum Passagiere, und der Schaffner erinnert mich an irgendwen, doch im Erinnerungsspeicher ist kein Zwilling für ihn verzeichnet.
Die Fahrt geht weiter durch den Thüringer Wald, durch enge, mit Schatten geflutete Täler, weiter über die Prärie der fränkischen Landstriche, bis hin zur Hauptstadt mit Herz, Hauptstadt mit aufgeblähten Herzbeuteln.
 
Kurz nach drei Uhr betrete ich leise den Saal des Einstein-Kulturzentrums, des sich in den alten Gewölbekellern einer ehemaligen Brauerei befindet; all die sonnigen Winterlandschaften, an denen ich die letzten Stunden vorbei gefahren bin, liegen weit hinter mir, denn hier bin ich nun in einem Bunker ohne Mobilfunk-Netz.
Vorne an der Bühne steht Wolfram Malte Fues und diskutiert mit dem spärlichen Publikum über die verschiedenen Möglichkeiten der Lyrik in dieser Zeit, bezieht sich auf Schiller und schaut aus wie Jean Marais, kurz bevor er sich die Maske des Fantomas überstreift. Er hat zweifelsohne Charisma, aber er hat auch zweifelsohne wenig Zuhörer (leider, denn er scheint klug zu sein und hat etwas zu vermitteln). Nicht anders wird es in den folgenden Veranstaltungen der Haidhauser Büchertage sein. Mitten in einer Millionenstadt verirren sich zu jeder Lesung kaum mehr als ein Dutzend Interessierte. Warum das so ist? Ihr fragt besser nicht.
 
Am frühen Abend gehe ich zurück zum Bahnhof, um nach Frauenried zu fahren, ein winziges Dorf, in dem der Hallinger Markus mit seiner Frau und den fünf Kindern lebt. (Naja, drei sind schon ausgezogen).
Der Dichter wohnt in einem Pfarrhaus, das abseits der anderen Höfe, selbst abseits der Kirche liegt, hinter tiefem Schnee, vor dunklen Tannen. Die Leute im Dorf reden über ihn. Er schreibt über die Leute vom Dorf.
 
Doch zuvor geht es auf eine Lesung im Nachbarort Weyarn, eine kleine Gruppe von Häusern, die sich um ein übermächtiges Kloster der Deutschritter ducken. In der Dunkelheit der matt glänzenden Nacht meine ich in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein. Ständen keine parkenden Autos vor der kleinen Dorfbücherei, die sich in einem Raum des Ordens befindet, würde ich beim Rauchen vor der Tür auf den Landauer warten, gezogen von zwei falben Schimmeln, der mich zum König bringt. (Versonnen streiche ich mir über den aufgezwirbelten Schnurrbart).
 
Die Lesung von Hallinger und dem Schriftsteller Helmfried von Lüttichau ist verblüffend gut besucht, mehr als zwanzig Leute drängen sich in dem kleinen Raum. Ein Gitarrenduo spielt, die Männer lesen Gedichte, die Bibliothekarin schenkt Wein aus und lacht.
Danach Schweineschnitzel, die als Schweinemedallions verkauft werden, in der hässlichsten Pizzeria diesseits des Atlantiks. Putti mit Weihnachtsgirlanden, angetrunkene Dorfjugend, Kulturschock.
 
Später im Pfarrhaus des Dichters noch einige Zigaretten und große Gläser mit Kräuterlikör. Während Markus seine Gedrehten in sich reinzieht, dampfe ich meine E-Zigarette, die ich mir zwar schon vor acht Monaten gekauft habe, die ich aber erst seit einigen Wochen regelmäßig benutze. Nunmehr bekomme ich wieder Luft, aber ganz leicht fällt es mir trotzdem nicht, auf verbranntes, hoch aggressives Nikotin zu verzichten. Denn wenn eine Zigarette des Äquivalent zu Heroin wäre, könnte man das Liquid der E-Zigarette als Methadon bezeichnen. Es hält mich friedlich, aber manchmal befriedigt es nicht vollständig, der letzte Kick fehlt.
 
Am nächsten Morgen (9. Dezember 2012, noch immer in der Provinz Baiern) früh aus den Betten, große Stücke Wurst frühstücken, und dann ab in die Landeshauptstadt zurück.
Meine Lesung um 12 Uhr noch schlechter besucht, als der Vortrag von Professor Fues, aber von den wenigen Leuten – fast alles Schriftsteller – beglückwünschen mich anschließend die Hälfte.
Auch die Lesung von Markus zuvor ein Erfolg, ebenso der ungeplante Auftritt von Frank Schmitter.
 
Am Nachmittag dann ein Podiumsgespräch zur aktuellen Situation der Lyriker (verarmt und ausgebuht) zusammen mit Markus, Johannes Frank und Bertram Reinicke. Schnell kommt das Thema auf Schreibschulen, und ob man dort das Dichten lernen könne. Eher nicht.
Auch dieses mal kaum Zuhörer. O, München, Hauptstadt der Bildungsbürger scheinst du nicht zu sein. Oder sind alle im Schnee stecken geblieben? Oder wollen sie mich einfach nicht hören?
 
Noch ein kurzes Gespräch mit Johannes, der wenig später zum Flughafen muss, um zurück nach Berlin zu fliegen, der viel früher in der Heimat ankommen wird als ich, was ich ihm ein bisschen neide. Dann eine Gulaschsuppe zu fünf Euro, schließlich zur U-Bahn-Station. Wenig später stapfe ich durch eine aufgegebene Schalterhalle des Münchener Hauptbahnhofs und besteige den ICE.
 
In der Helle des Bahnhofs wirbeln Schneewolken aus den Deckenstrahlern. Die Verlassenheit des Reisens an einem Winterabend. Richtung Jena/Paradies, wie es neonrot am Waggonhimmel leuchtet. Die gelassene Verlassenheit des Reisens. In solch Stimmung von Weltschmerz möchte man zwei Sitze weiter nicht die graue, warme Unterwäsche einer mitteldicken Frau sehen, die sich nach Vorne beugt und nach einem Snack angelt.
Abfahrt des Zuges. Eine Stunde später erreicht mich eine SMS von Johannes, dass sein Flug ob des Wetters gestrichen worden sei, und er nun in dieser Stadt festhängen würde. Ach, wie schön kann Bahn fahren sein.
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© Florian Voss