Auszüge aus dem Gedichtband
Datenschatten, Datenströme, Staub
Märchen
Ach, könnte ich doch hungern
bis die Haut so weiß ist wie die Knochen
Steckt mir Wackersteine in den Bauch
and call me Rotkäppchen
Gut durchblutet sind die Lippen
tief sind meine Nasolabial-Falten
Call me Schneewittchen
and give me a bißl Botox
für mein durchgeknalltes Hirn
Ich hör immer noch das Kreischen
meines durchgedrehten Mütterleins
sie kochte Brei mit Wackersteinen
und kicherte wie Rumpelstilzchen
Im kirschenroten Fernsehapparat
sprang das Hänschen Rosenthal herum
Mein Vater war ein dunkler König
mit Morgenmänteln aus Brokat
und Schlangenleder-Clocks
Call me bitte rotes Käppchen
und füll mir noch ein Glaserl
mit dem süßen Gänsewein
liebe tote Großmutter
Im Keller schwebt ein kaltes Fallbeil
Egoiste
Ich war so müd als ich des Nachts im Fernsehn lag
im Werbeblock war eine grüne Wiese lang zu sehen
mit bösen Blumen die die schwarzen Fliegen fingen
(am Waldrand zappelte ein Power-Ranger)
Der Himmel war aus Eisenlack
Im anderen Channel lief ein alter Mann
durch eine Reklame von Chanel
In meinem Hirn war alles völlig farbig
Ich war so müd als ich des Nachts im Fernsehn lag
im Herzen war mein Panic-room
Laßt mich doch sein ein großer Werbespot
damit ich mich erkennen kann
Idyll 1847
So weißes Papier war nicht auf den Tischen
vor hundertsechzig Jahren war es mehr beinfarben
Und die Galläpfel in der Lade
schwitzten die Eisenoxidtinte ins Holz
Die geheimsten Gedanken der geheimsten Räthe
verschlossen in den geheimsten Fächern
der Schreibkommoden und Lesepulte
In den hohlen Schäften der Gänsekiele
schlafen die Buchstaben feinziseliert
Die Siegellackseen in den täglichen Träumen
unter blühenden Birnbäumen weit hinten
im überseeischen Theil des Gartens
Und neben der schmiedeeisernen Veranda
die Hausmagd auf der Schaukel
ein morsches Brett an Hanfseile gehängt
am Ast eines Lindenbaums den der Urahn
schon pflanzte in der Zeit des Winterkönigs
Der Salon atmet Präludien in die Abendluft
Und die Magd hat ein Messer im Kittel
Es geht auf das Jahr Achtundvierzig
Den Haag – Mariahoeve
Ich logiere gegenüber
der tristesten Pizzeria der Welt
in einem flachgedrückten Viertel
daß die Nachkriegszeit
hervorgeträumt hat – schweißbedeckt
Die Menschen: freundliche Puppen
die ihre bunten Puppenmahlzeiten
in den Mägen verbergen
Das Fernsehprogramm läuft rund
um die Uhr am Flachbild-Himmel
Man sieht ein graues Fernsehspiel
Ich logiere gegenüber
der tristesten Pizzeria der Welt
Selbst das Hundefleisch ist ausgegangen
und die Geheimbotschaften im Bierschaum
sind kaum noch lesbar
Die letzten Dohlen auf den Straßen
verstecken sich in Pioniergehölzen
die von der Küste herangekrochen sind
In der Pizzeria werden die Gäste kalt
(für Johanna-Maria Tielens, 1943 - 2007)