Geisterteilchen
Die Essenz des Gedichts - in den 10er Jahren schrieb ich meinen fünften Gedichtband, den seinerzeit niemand publizieren wollte. Jahrelang lag er auf verschiedenen Festplatten, bis ich ihn vor einer Weile wieder hervorholte ... und kürzte, immer weiter kürzte, bis nur noch ein Skelett übrig blieb. Diese Reste kannst Du hier nun lesen. Es ist die Essenz aus rund fünf Jahren Arbeit. Besser wird es nicht.
Florian Voß, Berlin im März 2025
1
kinder in der dämmerung
standbilder außerhalb der erinnerung
ein regen aus blassen streifen
hinter der dämmerung verweilen
die letzten bolzen aus der schweren
armbrust vergessen
das schwarze unter den fingernägeln der nacht
der algengrüne irrsinn im meer in uns
2
draußen auf den brücken
stehen die menschen in schockstarre
ich gehe unterm tod spazieren
3
in meinen augen wohnt ein messer
das schneidet alle wörter durch
und alle krähen fliegen hoch
und alle finger fliegen hoch
damit es still am tische wird
damit die sonne kälter wird
4
weil ja der tod ein löschpapier ist
auf der karierten karte des ichs
kartiert ist nichts mehr dort
zwischen den winzigen
schwarzen löchern fallen wir
zurück ins geistermeer
5
der kopfschlächter lebt im dunklen wald
in einer feuchten mulde liegt er nachts
und träumt von wüstungen der vorzeit
zwischen den dörfern ist verheerung
die schweine quieken in den koben
der kopfschlächter geht nach dem frühstück
– das aus dunklen beeren ist – in die fabrik
er sticht die sauen ab | die ferkel auch
er schlitzt die bäuche auf | weil überstunden sind
und zieht die teratome raus
die hautsäcke mit haaren | zähnen | pseudohirnen
der kopfschlächter stapft auf den kacheln
durch kaltes blut zum kaffeeautomat
darin sind dunkle träume eingeschlossen
6
mein totes gesicht rasieren braucht ihr nicht
lasst wachsen meine fingernägel
ich bin der krieg | sagte man mir
ich bin die hand an deiner kehle
ich bin das gold | ich bin das blei
ich bin dein traum von toten kindern
ich bin plutonium und pluto
ich bin ein stern der ewig brennt
ich bin ein hauch | sagte man mir
der aus deinem körper fährt
ich bin die flucht in deinen augen
mein totes gesicht rasieren brauchst du nicht
lass wachsen meine fingernägel
7
ich döse | derweil im äther
des abgeklärten nachmittags
der sturm aufkommt
treibt den warmen luftschaum
vor sich her | als wäre sommer
hinter der stadt dort draußen
werden winde sich formen
und die leeren dosen peitschen
mein körper ist eine konserve
denk ich mit winter drin
lasst mich nur ein bisschen dösen
im turm meines kopfes
die metropole des körpers
8
als wäre unser ich ein funkeln bengalischen feuers
das gott entzündet hat und das verglüht
zu feinem rauch | ein dünner dunst des sterbens
gott läßt die nächsten funken stieben
unser glühen aber fällt in die namenslosigkeit zurück
schon in einer vollnarkose können wir nicht fühlen
können es nicht reden hören: das rege denken
da ist es still | da steht das selbst als glühfaden
in dem überspannten strahler seines himmels
9
die nacht könnte herein scheinen
mit ihren tausend schwarzen strahlern
in das zerbröckelte ich aus erde
wenn die seele aus gras wäre
könnte die hand hindurch streichen
könnte die zuckungen aus grünen ganglien
hin und her treiben lassen | hin und her
in den tälern der nacht wächst dunkles gras
aber gras ist nichts als die welt der käfer
der wald der schläfer
in uns wald aus gras | gangliengestrüpp
in den synapsen funken die fehler
10
aber was kümmert mich der tod der anderen
solange ich noch atem habe
atmend in meinem schönen körper liege
der hinaus ragt in den tod
11
der nachmittag hat ausgeatmet
und eingeatmet hat die nacht
ich will im schlaf ertrinken
wie wenig wiegt das ich